Es gibt Komplexität, die für den Kunden echte Werte schafft, die bezahlt wird und damit die Grundlage für ein resilientes Geschäftsmodell bildet.
Was das bedeutet, lässt sich gut am Beispiel der deutschen Automobilindustrie nachvollziehen. Dort wird Komplexitätsbeherrschung inzwischen als mächtiges Werkzeug in der Pricing- und Differenzierungsstrategie eingesetzt. Denn gute Autos bieten seit langem viele Hersteller an. Aber eine hocheffiziente Serienproduktion von kundenspezifisch konfigurierten Fahrzeugen in Losgröße 1 aufzubauen und damit dem Kunden die Möglichkeit zu bieten, sein Fahrzeug praktisch beliebig zu gestalten, sichert ein enormes Profitpotential ab. Damit ist die wahre Kernkompetenz nicht mehr nur die Entwicklung und Herstellung eines Fahrzeugs – sondern ein hochprofessionelles System zum Komplexitätsmanagement in Entwicklung, Produktion und Vermarktung. Werterzeugende Komplexität wird so zur Chance – gerade für den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen Rückgrat, den Mittelstand. Sowohl bei Automobilzulieferern als auch bei Konsumgüterherstellern und in vielen anderen Branchen liegt die Chance im bewussten Umgang mit „werterzeugender“ Komplexität – denn im reinen Massenmarkt und im „einfachen“ Preisvergleich können solche Unternehmen nur verlieren.
Werterzeugende vs. wertvernichtende Komplexität
Komplexität in Produkten hat immer dann eine positive, wertsteigernde Wirkung, wenn bei den Kunden eine hohe Zahlungsbereitschaft für die von ihnen „gewünschten“ Varianten oder Derivate gegeben ist. Diese Art von werterzeugender Komplexität ist zu unterscheiden von einer als kritisch einzustufenden wertvernichtenden Komplexität. Diese wird häufig im Unternehmen nicht wahrgenommen und kann in der Marktbearbeitung, in der Kunden- oder Marktstruktur, in der Struktur der Organisation oder in einer Vielzahl von Produktfunktionen versteckt sein, die der Kunde nicht nutzt und für die er auch kein Geld bezahlen will. Ein besonders häufig anzutreffender Fall wertvernichtender Komplexität ist eine hohe Sortimentskomplexität. Deren Auswirkungen und exemplarische Ergebnispotentiale durch eine Optimierung zeigen wir im Folgenden im Detail.
Bewertung der Sortimentskomplexität
Es lässt sich feststellen, dass in den meisten Unternehmen die Sortimentskomplexität in den letzten Jahren massiv angestiegen ist – sei es durch immer kleiner werdende Marktsegmente oder auch durch den Wunsch, mit neuen Derivaten den Absatz anzukurbeln. Doch häufig führt dies zu einer Profitabilitätserosion, die nur selten richtig diagnostiziert wird. Wie also kann man Sortimentsstrukturen fundiert bewerten, um sicherzustellen, dass keine Werte vernichtet werden?
Im Kern geht es dabei darum, „gute“ Produkte von „schlechten“ zu unterscheiden. Das mag auf den ersten Blick wie eine Binsenweisheit klingen, ist jedoch alles andere als trivial, da oft die Wechselwirkungen zwischen den Produkten und deren Positionierung im Sortiment nicht ausreichend betrachtet werden. Oftmals treffen wir bei unseren Kunden auf Situationen, die den Pareto-Grundsatz eindrucksvoll bestätigen (Abbildung 1): 20 Prozent der Produktfamilien machen ca. 80 Prozent des Umsatzes aus, die restlichen 80 Prozent der Artikel haben nur einen sehr geringen Umsatzanteil. Noch deutlicher wird es beim Blick auf die detailliertere Variantenebene: Im hier gezeigten Kundenbeispiel machen die letzten 25 Prozent der Produktvarianten nur noch 0,3 Prozent des Umsatzes aus. Ist in diesem Zusammenhang Komplexität nun „gut“ oder „schlecht“?
Entscheidend ist, ob ein zusätzlicher profitabler Umsatz mit diesem verbreiterten Sortiment erzielt wird, oder nicht.
Das ist häufig nicht der Fall. Im dargestellten Beispiel eines Herstellers von Lounge-Möbeln wird der typische Mechanismus illustriert: Die Komplexität im Produktsortiment steigt über die Jahre deutlich, jedoch bleibt die Summe der produzierten Einheiten näherungsweise gleich. Kurz: Der Umsatz bleibt auf gleichem Niveau, verteilt sich jedoch auf immer mehr Produktvarianten, die damit zusammenhängenden Personal- und Sachkosten steigen und die Profitabilität sinkt.
Der Weg zur optimalen Sortimentskomplexität
Wie lässt sich nun herausfinden, welche Sortimentskomplexität für das Unternehmen das Optimum darstellt? Dafür gilt es, sich ein klares Bild von der Sortimentsstruktur zu erarbeiten und dabei zwei Themenfelder zusammenzuführen:
Klassische betriebswirtschaftliche Daten wie z.B. Absatz, Umsatz und Produktdeckungsbeitrag, z.B. auf Jahresebene. Die Positionierung der Produkte in der Produktsortimentsstruktur, d.h. die „inhaltliche“ Beziehung zwischen den Produkten und dem Markt. Dabei geht es um die Wechselwirkung zwischen den Produkten selbst wie z.B. im Cross-Selling in einzelnen Aufträgen und zugleich auch um den Produktaufbau, d.h. Gleichteile und Baukastenprinzipien. Um ein im Management-Team akzeptiertes Bild von der Sortimentsstruktur und deren möglicher Bereinigung zu schaffen, hat sich in unserer Praxis die Methodik der „Produktlandkarte“ bewährt. Dabei werden z.B. nach Anwendungsbereichen und/ oder Märkten segmentiert die profitabelsten Produkte in einem Segment in Beziehung zu weiteren Produkten im gleichen Segment gesetzt. Anhand des absoluten Ergebnisbeitrags wird der Wertbeitrag eines Produkts für das Unternehmen deutlich.
Im Rahmen einer Workshopreihe kann so das gesamte Produktsortiment gemeinsam mit einer interdisziplinär besetzten Management- und Expertenrunde auf Produktlandkarten positioniert und diskutiert. Potenzielle Streichkandidaten können so identifiziert werden. Hierbei erzeugt in den häufig sehr engagiert geführten Diskussionen gerade das Zusammenspiel zwischen „harten“ Zahlen (bspw. Absatz, Umsatz und Ergebnisbeitrag) und „weichen“ Faktoren (bspw. Positionierung der Produkte und deren Wechselwirkungen) eine konstruktive Reibung. Insgesamt kann so ein Konsens im Managementteam und – nicht zu unterschätzen – auch auf Gesellschafterseite erzielt werden, dass eine massive Straffung im Produktsortiment durchgeführt werden sollte. In einzelnen Fällen kann dies eine Reduktion um bis zu 50% bedeuten!
Das profitable Optimum
Betrachtet man die entstehenden Finanzeffekte, wird klar, dass jede Streichung eines Produkts einen damit verbundenen Verlust an Umsatz und Deckungsbeitrag sowie gebundenen Ressourcen im Bestand oder beispielsweise bei Werkzeugen mit sich bringt. Spannend wird damit die Frage, wie man ein profitables Optimum ermitteln kann oder anders ausgedrückt, wo das Pendel zwischen „guter“ und „schlechter“ Komplexität umschlägt. Das Spannungsfeld erschießt sich zwischen den Polen „Kosteneinsparung durch Komplexitätsreduktion“ und auf der anderen Seite Umsatz- und Deckungsbeitragsverlust. Ein wesentliches Entscheidungskriterium hierbei ist die Fragestellung, wieviel Mindestdeckungsbeitrag eine Modellvariante generieren muss – und das in EUR als jährlicher Absolutwert gemessen. Die Berechnung, welcher durchschnittliche Personal- und Sachkostenaufwand im Durchschnitt pro Baureihe im Jahr verursacht wird, ist an dieser Stelle sehr hilfreich. Vereinfacht kann man dann den erwirtschafteten Deckungsbeitrag pro Jahr den Pflegeaufwänden gegenüberstellen. Spätestens wenn der Pflegeaufwand größer als der erwirtschaftete Deckungsbeitrag ist und durch das Produkt keine nennenswerten strategischen Positiveffekte im Produktportfolio entstehen, ist ein klarer Streichkandidat identifiziert!
Welchen Nutzen bringt nun ein solches Vorgehen? Im Nachfolgenden soll eine beispielhafte Ergebnisrechnung dargestellt werden. Im oben eingeführten Fallbeispiel wurde ein jährlicher Ergebnisbeitrag zwischen 0,6 und 1,5 Mio. EUR identifiziert. Die Höhe des Ergebniseffekts hängt stark davon ab, inwieweit es dem Vertrieb gelingt, adäquate Ersatzprodukte aus dem eigenen Sortiment zu verkaufen, um den Deckungsbeitragsverlust zu kompensieren oder den Fokus von den ohnehin unprofitablen Streichkandidaten auf profitablere andere Produkte zu lenken. Im dargestellten Fallbeispiel ging man von einer Konvertierung des Umsatzverlusts zwischen 50 bis 100 Prozent aus, was den positiven Ergebniseffekt der Sortimentsbereinigung verdoppeln kann. Auch an dieser Stelle geht es – wie oftmals in der Planung – nicht um die detaillierte Prognose der Zukunftszahlen, die ohnehin nicht möglich ist, sondern ums Commitment des Managementteams und insbesondere des Vertriebs!
Fünf einfache Regeln zum erfolgreichen Management von Komplexität
Das Beispiel zeigt, dass der richtige Umgang mit Komplexität alles andere als einfach ist und kontinuierlich im Auge behalten werden muss. Aus unserer Sicht haben sich fünf einfache Regeln bewährt, die rechtzeitig die richtigen Anstöße geben können:
- Der Bewertungsmaßstab für gute, werterzeugende Komplexität sollte immer die Zahlungsbereitschaft des Kunden sein.
- In den allermeisten Fällen sollte das Anlaufen neuer Produkte in engem Zusammenhang mit dem Auslauf bestehender Produkte stehen. Es sei denn, die neuen Produkte fokussieren sich tatsächlich auf neue Märkte oder Marktsegmente.
- Mindestens zweimal im Jahr müssen bei neuen Produkten die realen Absatzzahlen mit den Planabsatzzahlen verglichen werden.
- Die Sortimentsbreite sollte stets im Zusammenhang mit dem Umsatz gesehen werden. Sinkt der durchschnittliche Umsatz je Artikel, ist das ein Warnsignal.
- Eine erfolgreiche Sortimentsstrukturoptimierung ist Teamsport. Beziehen Sie alle relevanten Fachbereiche in den Optimierungsprozess – der natürlich mit konstruktiver Reibung begleitet sein muss – mit ein, um einen möglichst großen Konsens zu erzielen!
Zum Schluss der aus unserer Sicht wichtigste Tipp: Starten Sie den Prozess! Schließlich gibt es unzählige Gründe, eine Sortimentsstrukturoptimierung zu verschieben. Gerade Umbruchphasen eignen sich, um das Thema „Komplexität“ fokussiert oder im Gesamten zu beleuchten und konsequent zu handeln. Oder um es mit den Worten von Albert Einstein zu sagen: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert!“