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Insights

Mit der fluiden Intelligenz schwinden auch die Spitzenleistungen

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Wie Sie mit kristalliner Intelligenz eine neue Phase des Erfolgs einleiten

Im Leistungssport ist es hinlänglich bekannt und auch akzeptiert, dass man in der zweiten Lebenshälfte nicht mehr auf „olympischem Niveau“ wettbewerbsfähig sein wird, sein kann! 

„Bis Mitte, manchmal Ende 30 werden Rekorde erbracht. Danach ist man als Sportler ‚alt‘. Ab 40 Jahren beginnt bei jedem Menschen dann ein Muskelschwund (Sarkopenie) von durchschnittlich ein bis zwei Prozent pro Jahr“,

sagt auch Georg Neumann, einer der führenden deutschen Experten für den Leistungssport. Es ist somit die traurige Wahrheit: Einem Alterssportler stehen nur noch 50% der aktiven Muskelmasse zur Verfügung, die er auf seinem physischen Peak hatte. 

Irgendwann hörte ich, dass auch „Leistungssportler“ der intellektuellen Sorte im Alter nicht mehr die gleiche Performance wie jüngere Menschen erbringen können. Das Thema packte mich sofort. Da fühlte ich mich persönlich tangiert, denn durch die intellektuelle Intensität des Beraterlebens zähle ich mich zur Gruppe der Betroffenen. 

Intellektuelle Leistungsfähigkeit besteht, wie ich mit Interesse lernte, aus mehreren Komponenten. So stellte der Persönlichkeitspsychologe Raymond Bernard Cattell schon vor rund 50 Jahren die Zweikomponententheorie der Intelligenz auf. Demnach lässt sich die Intelligenz in zwei unterschiedliche Bausteine untergliedern: die fluide und die kristalline Intelligenz

Die fluide Intelligenz ist eine angeborene Fähigkeit, die uns zum Beispiel für die Kreativität, die Orientierung in Situationen, das Lösen von Problem und auch die Geschwindigkeit, in der wir Informationen verarbeitet, zur Verfügung steht. 

Bei der kristallinen Intelligenz geht es um eine angeeignete Fähigkeit, die sich durch unsere Erfahrungen und unser Lernen im Laufe des Lebens ausbildet. Man kann diesen Erfahrungsschatz der kristallinen Intelligenz auch als Weisheit bezeichnen. 

Interessanterweise nimmt die angeborene fluide Intelligenz mit dem Alter deutlich ab, wogegen die kristalline Intelligenz mit der Lebenserfahrung zunimmt. Somit werden sich die intellektuellen Leistungsperspektiven in der ersten Lebenshälfte, von denen der zweiten Lebenshälfte stark unterscheiden. 

Das Buch, das mich in diesem Kontext fast schon „erschüttert“ hat, ist ein Meisterwerk von Arthur C. Brooks, Professor an der Harvard University in den USA. Sein Titel: „From strenght to strenght: Finding success, happiness and deep purpose in the second half of life“. Als sehr ehrgeiziger Intelligenz-Performer hat Brooks sich mit dem Thema aus eigener Lebenserfahrung beschäftigen müssen, um nicht wegen des Verfalls der fluiden Intelligenz den Anschluss an das erfüllte Leben zu verlieren. 

Brooks‘ Erkenntnisse haben mich sehr nachdenklich gemacht. Zugleich hat mir sein Buch aber auch mögliche Lösungsansätze geliefert, wie sich mit diesen Gesetzen der Natur erfolgreich umgehen lässt.  

Fest steht: Der Verfall der fluiden Intelligenz ist unumkehrbar und lässt sich nur verlangsamen. Die schmerzhafteste Botschaft ist dabei, dass die extremen Ausprägungen beruflicher Performance und Erfolge davon besonders getroffen sind. Oder wie Brooks sagt:

„The more accomplished one is at the peak of one’s career, the more pronounced decline seems once it has set in.“

Bloß: Im Unterschied zu klassischen Athleten, gehen die meisten Leistungssportler der intellektuellen Arbeit davon aus, dass die Performance-Party ewig gehen wird.

Weit gefehlt. Schauen wir uns einmal eine Studie von Benjamin Jones an, Professor von der Kellogg School of Management. Darin wertete er das relevante Alter der Nobelpreisträger im 20. Jahrhundert aus. Und tatsächlich: Die meisten dieser Forscher machten ihre großen Entdeckungen in den späten Dreißigern ihres Lebens. Die Wahrscheinlichkeit, dass später im Leben noch eine bedeutende Entdeckung gelingt, bricht ab einem Alter von 50 bzw. 60 Jahren dramatisch ein – sieht man einmal von ein paar wenigen Ausnahmen ab.

Die erfolgreichen Unternehmensgründer weisen eine ähnliche Altersstruktur auf. Dies ist auch nachvollziehbar, da man einerseits die nötige Kreativität sowie Problemlösungsfähigkeit eher in jüngerem Alter aufweist, andererseits die Risikobereitschaft mit zunehmendem Alter deutlich sinkt. Man hat später schlicht mehr zu verlieren, da die eigene Komfortzone bereits üppig ausgestattet ist. Unterschiedlichsten Studien zufolge liegt das beste Alter, um Unternehmen zu gründen, entlang der Kurve der fluiden Intelligenz: zwischen 28 und 45 Jahren.

Interessanterweise beobachten wir dieses Phänomen auch in der Beratungsbranche. Für mich persönlich bildet eine sehr gute Mischung aus jungen und erfahrenen Menschen immer noch die beste Kombination aus Kreativität, konzeptioneller Geschwindigkeit und bewährten Methoden. Da wir vor allem junge Leute größtenteils selbst ausbilden und an uns binden, wurden wir früher von einigen Marktbegleitern als „Jugend-forscht-Truppe“ belächelt. Sie selbst setzten nur auf sehr, sehr erfahrene Leute aus der Industrie und strichen dies auch als ihre USP heraus. Es freut mich besonders, dass unser Ansatz „der kreativen Weisheit“ in den vergangenen Jahren durch ein deutliches Wachstum bestätigt wurde, während wir von den damaligen Marktbegleitern überhaupt nichts mehr hören. J

Nichtsdestotrotz interessiert mich, worauf diese Erosion der fluiden Intelligenz zurückzuführen ist. 

Eine mögliche Erklärung ist die Verschlechterung in der physischen Performance des präfrontalen Cortexes. Der präfrontale Cortex ist für die exekutiven Funktionen verantwortlich, wie die Antizipation von Handlungskonsequenzen, die Planung künftiger Handlungen, das Lösen neuer Probleme und das Arbeitsgedächtnis. Er ist der letzte Teil des Gehirns, der sich in der Kindheit entwickelt – und leider auch der erste Teil, der im Alter abbaut, vor allem bei der synaptischen Plastizität. 

In einer ersten Reaktion auf diese Erkenntnis ging ich der Frage nach, wie ich es schaffe, das Unvermeidliche wenigstens zu verlangsamen. Den wirksamsten Ansatz zur Prävention fand Yorgi Mavros, ein Doktor von der Sydney University in Australien im Rahmen einer Studie heraus. Seine klare Empfehlung: regelmäßiges, auf rund 80% der maximalen Belastungsgrenze ausgerichtetes Krafttraining. 

„The key however is to make sure you are doing it frequently, at least twice a week, and at a high intensity so that you are maximising your strength gains. This will give you the maximum benefit for your brain.“

Wem das doch zu „schwer“ ist, sollte laut Forschern der Universität Basel wenigstens grünen Tee trinken. Dies soll die Zusammenarbeit unterschiedlicher Areale im Gehirn verbessern. Wem’s schmeckt … 

Trotz aller Bemühungen sollten wir diese Entwicklung bei der fluiden Intelligenz aktiv und rechtzeitig antizipieren. Anders gesagt: Wir sollten die zweite Phase des Lebens bewusst einleiten, sprich die Vorteile nutzen, die uns die kristalline Intelligenz bietet. Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau wusste nichts von ihr, gleichwohl formulierte er sehr treffend:

„Die Jugend ist die Zeit, die Weisheit zu lernen. Das Alter ist die Zeit, sie auszuüben.“

Mit der Weisheit und dem Wissen können wir unsere Lebenskurve der intellektuellen Leistung neu ausrichten. Sagt Arthur C. Brooks: 

„This finding says that if your career relies solely on fluid intelligence, it’s true that you will peak and decline pretty early. But if your career requires crystallized intelligence—or if you can repurpose your professional life to rely more on crystallized intelligence—your peak will come later but your decline will happen much, much later, if ever.“

Interessant und sehr zutreffend sind in diesem Kontext drei Empfehlungen des römischen Politikers und Philosophen Marcus Tullius Cicero aus der Zeit um 100 v. Chr.: Sich dem Dienen zu widmen, das Leben der anderen durch die gewonnene Weisheit respektive deren Weitergabe zu bereichern, und all das, ohne explizit nach Geld, Macht oder Prestige zu streben.

Es ist sehr beruhigend zu wissen, dass diese zweite kristalline Kurve existiert und uns die Chance bietet, auch in der zweiten Lebenshälfte ein erfülltes Leben zu führen. Nichtsdestotrotz bleibt es eine riesige Herausforderung, rechtzeitig einen Weg zu finden, diese kristalline Intelligenz einzusetzen. Arthur Brooks ist dies gelungen. In seinen Vierzigern hängte er einen erfolgreichen Job als CEO eines führenden politischen Think Tanks in Washington an den Nagel und stürzte sich als „Lehrer“ in Harvard in eine neue Dimension, mit vollem Risiko. Heute führt er ein glückliches und erfülltes Leben, auch weil er damit seine Arbeits- und Erfolgssucht erfolgreich überwinden konnte – sagt er zumindest. 

Vor allem letzteres kann für die besonders performanceorientierten Leistungsträger zur größten Herausforderung werden: sich aus der hedonistischen Adaptation zu lösen! Aber das ist ein Thema für die nächsten Thoughts for Leaders!

PS: Weitere spanende Beiträge zu diesen und weiteren Themen finden Sie in unserer neuen Podcastreihe 

LeaderTalks

Unter anderem Prof. Oberholzer-Gee von der Harvard University zum Thema „Warum die effektivste Strategie auf Werten und nicht auf Magie basiert“ oder auch Patric Heizmann, führender Gesundheitsexperte in Deutschland zum Thema „Fit.Fitter.Führen, Warum nur ein gesunder Lebensstil Höchstleistung auf Dauer ermöglicht“.

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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