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Insights

Das einzig wahre Persönlichkeitsmodell

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Warum nicht alles wahr ist

Bereits seit Jahrtausenden versucht die Menschheit, einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte zu finden. Auch was die Typologie der Menschen angeht. So stellte Hippokrates, der „Vater der Medizin“, um das Jahr 400 v.Chr. herum die sogenannte „Viersäftelehre“ auf. Ihr zufolge gab es vier Lebenssäfte: Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle. Waren diese im Gleichgewischt, war der Mensch gesund, verschob sich das Verhältnis, erkrankte er. Andere führten den Gedanken später weiter und teilten die Menschen in vier Temperamente ein, je nachdem, welcher Lebenssaft in ihnen überwog: Sanguiniker (Blut), Phlegmatiker (Schleim), Choleriker (gelbe Galle) und Melancholiker (schwarze Galle). 

Bis heute werden diese vier Typen im Alltag sehr gerne verwendet, doch sie haben – wie jede Typologie – das Problem, dass sie versuchen, die vielschichtige Persönlichkeit eines Menschen in eine sehr monokausale „Schublade“ hineinzupressen. 

Inzwischen gewinnt man fast den Eindruck, dass jedes einigermaßen große Coaching-Institut, das etwas auf sich hält, ein eigenes Persönlichkeitsmodell entwickelt hat.

Bei den Recherchen zu mehreren meiner Themen aus den vergangenen Monaten – wie Intelligenz, Erfolg im Leben oder die Steigerung des Selbstwertgefühls – stieß ich indes immer wieder auf ein mir bis dato unbekanntes Persönlichkeitsmodell: das OCEAN-Modell (auch Big-Five-Modell genannt). 

Dieses Persönlichkeitsmodell steht seit Jahrzehnten im Dienst der Wissenschaft, und im Unterschied zu klassischen Typologien stellt es nur auf die Persönlichkeitsdimensionen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen ab. Aufgrund seiner hohen Zuverlässigkeit und empirischen Validität gilt das OCEAN-Modell heute als Standard. 

Die Geschichte des Modells ist verschlungen. Seine Wurzeln liegen in den Dreißigerjahren, als die drei US-Psychologen Louis Thurstone, Gordon Allport und Henry Odbert 18.000 Begriffe zur Beschreibung menschlicher Charakterzüge klassifizierten und die aus ihrer Sicht wesentlichen Worte ermittelten. Über die Jahrzehnte reduzierten andere Forscher diese mit Hilfe von Faktorenanalysen auf nur noch fünf Dimensionen, die sich bei jedem Menschen in unterschiedlicher Ausprägung zeigen. Anfang der Achtzigerjahre setzte sich das Big-Five-Modell dann in der Breite durch.

Allein in den vergangenen 20 bis 30 Jahren soll das Modell in mehr als 3000 Studien eingesetzt worden sein. Als besonders wertvoll stellte sich dabei heraus, dass die fünf Dimensionen auch eine interkulturelle Beständigkeit aufweisen respektive eine internationale Übertragbarkeit gewährleisten. Darüber hinaus nimmt die Stabilität der Persönlichkeitsmerkmale mit dem Alter deutlich zu, was auch die Validität der Aussagen im Lebensverlauf steigert. 

Das Big-Five-Modell betrachtet den menschlichen Charakter entlang fünf unterschiedlicher Dimensionen, deren Anfangsbuchstaben im Englischen zur Abkürzung OCEAN geformt werden:

Openness – Offenheit für Erfahrungen

Conscientiousness – Gewissenhaftigkeit 

Extroversion – Extraversion 

Agreeableness – Verträglichkeit

Neuroticism – Neurotizismus

Dabei umfassen diese Dimensionen mehrere unterschiedliche Teilaspekte, die auch nicht absolut, sondern in ihrer Ausprägung entlang der klassischen Normalverteilung betrachtet werden. Damit kann man Tendenzen ableiten, wie sich unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen verhalten. 

Um es noch mal explizit zu betonen: Bei diesen fünf Merkmalen handelt es sich um fünf Persönlichkeitsdimensionen, die erst in ihrer Kombination einen Menschen ausmachen – nicht um Typen. 

Nach aktuellen, vor allem aus Zwillingsstudien gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen, können wir davon ausgehen, dass rund 40 bis 60 Prozent der Unterschiede in der Ausprägung einzelner Persönlichkeitsmerkmale auf die genetische Prädisposition jedes Einzelnen zurückzuführen sind. Die restlichen rund 50 Prozent gehen auf das Umfeld sowie soziale Einflüsse zurück. Das ist insofern sehr wichtig, als es bedeutet, dass diese Persönlichkeitsmerkmale „trainiert“, sprich im Lauf des Lebens weiterentwickelt werden können. Die eigene Persönlichkeit ist somit nur bis zum gewissen Grad in Stein gemeißelt. 

Was steckt jedoch genau hinter diesen fünf Dimensionen? Hier ein grober Überblick – im Detail fällt das Modell natürlich deutlich differenzierter aus.

Offenheit für Erfahrungen

Menschen, die in dieser Dimension eine starke Ausprägung vorweisen, sind tendenziell kreativ, abenteuerlustig, fantasievoll und an vielen neuen Vorgängen interessiert. Sie stellen das Altbewährte häufig infrage und lieben Abwechslung. Sie neigen dazu, sich für Kunst, Musik und Literatur zu interessieren. 

Menschen, die in dieser Dimension eine schwache Ausprägung aufweisen, werden tendenziell als konservativ, traditions- und routineliebend bezeichnet. 

Interessant ist, dass damit auch gewisse Übereinstimmungen mit dem politischen Spektrum einhergehen. So sind Menschen mit einer starken Ausprägung dieser Dimension tendenziell linksliberal eingestellt, sie neigen dazu, die bestehende politische sowie wirtschaftliche Ordnung infrage zu stellen. 

Auch die anderen Dimensionen liefern Indizien für die unterschiedlichen politischen Einstellungen. Das ist insofern interessant, als ein Teil davon – wie erwähnt – biologisch geprägt ist. 

Gewissenhaftigkeit

Diese Dimension handelt von Selbstkontrolle, Selbstdisziplin und Ordnungsliebe. Menschen mit einer starken Ausprägung handeln sehr organisiert, besonnen und effektiv. Vor allem die konsequente Zielerreichung zeichnet diese Personen aus. 

Die Menschen, bei denen diese Dimension eher geringer ausgeprägt ist, nehmen das Leben deutlich lockerer. Das Erreichen eigener Ziele, Ordnung und sogar Sauberkeit ist ihnen tendenziell weniger wichtig.

Wie ich schon bei einem meiner jüngsten Beiträge der „Thoughts for Leaders“, jenem über Intelligenz, geschrieben habe: Eine starke Ausprägung der Gewissenhaftigkeit erklärt – zusammen mit der Intelligenz – rund 25 bis 35 Prozent des Lebenserfolgs, bezogen auf Einkommen und beruflichen Fortschritt. Intelligenz ist dabei der größere Faktor, aber Gewissenhaftigkeit folgt direkt dahinter und spielt eine wirklich zählbare Rolle.

Extraversion

Dies dürfte die wohl bekannteste Dimension aus diesem Modell sein, denn die Bipolarität zwischen Extraversion und Introversion wird in der Praxis sehr gern zur Beschreibung von Personen benutzt. Wie häufig ist zu hören, dass dieser Kollege eher introvertiert oder jene Bekannte doch sehr extrovertiert sei. 

Im Fall einer ausgeprägten Extraversion haben wir Menschen vor uns, die Geselligkeit lieben und auch zum Optimismus neigen. An ihnen lässt sich eine sogenannte „nach außen gewandte Haltung“ beobachten. Auch der Selbstwert korreliert mit Extraversion sehr positiv. 

Introvertierte Menschen haben eine eher niedrigere Extraversion und tendieren dazu, stiller und zurückhaltender zu sein. Wobei introvertierte Menschen keineswegs schüchtern sein müssen. Die amerikanische Anwältin Susan Cain beschreibt den Unterschied in ihrem Bestseller „Quiet – The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking“ (deutscher Titel: „Still – Die Kraft der Introvertierten“) wie folgt: 

„Shyness is the fear of social disapproval or humiliation, while introversion is a preference for environments that are not overstimulating. Shyness is inherently painful; introversion is not.“

Ähnlich schön bringt sie auch den Unterschied zwischen mehr oder weniger extrovertierten Menschen auf den Punkt:

„There's zero correlation between being the best talker and having the best ideas.”

Verträglichkeit

Bei dieser Dimension geht es um die Neigung zu Hilfs- und Kooperationsbereitschaft. Auch Harmoniebedürftigkeit korreliert damit sehr stark, weshalb Menschen, bei denen diese Dimension stärker ausgeprägt ist, dazu neigen, einem Konflikt eher aus dem Wege zu gehen. Altruismus geht mit dieser Eigenschaft tendenziell ebenfalls einher. 

Interessant ist die Beobachtung in Studien, dass Verträglichkeit bei Frauen eher stärker ausgeprägt ist. Dies trägt unter anderem auch dazu bei, dass Frauen bei Gehaltsverhandlungen schlechter abschneiden als Männer. 

Insgesamt ist auch diese Eigenschaft – wie alle anderen – weder schlecht noch gut. Sie spiegelt einfach nur die unterschiedlichen Aspekte des Lebens wider. Harmoniestreben kann dazu führen, dass man sich glücklicher fühlt, weil man mehr gemocht wird.  Ist jemand jedoch kompetetiver unterwegs, wird er im Leben womöglich in einigen Sphären weiterkommen. Wer sich allerdings wie ein Hai benimmt, wird irgendwann auch nur noch mit anderen, übrig gebliebenen Haien schwimmen J  

Neurotizismus

Bei dieser Dimension ist eine starke Ausprägung tendenziell von Nachteil, denn solche Menschen weisen eine schwächere emotionale Stabilität auf. Bei einer sehr hohen Ausprägung ist sogar davon auszugehen, dass Menschen häufiger unter Depressionen oder auch Angststörungen leiden können. 

Menschen mit einer schwachen Ausprägung dieser Dimension sind im Vergleich dazu psychisch deutlich stabiler. Ihnen fällt es leichter, souveräner und klarer mit äußeren emotionalen Triggern umzugehen. Ihr Selbstwertgefühl ist hoch. Anders gesagt: Die Korrelation zwischen Selbstwertgefühl und Neurotizismus ist tendenziell stark negativ, das heißt gegenläufig.

Soweit die fünf Faktoren des OCEAN-Modells. Zusammen erlauben sie uns, einige unserer Neigungen zu reflektieren, sie besser einzuschätzen und mit dem eigenen Verhalten in unterschiedlichsten Lebenssphären in Einklang zu bringen. So lassen sich kognitive Dissonanzen deutlich besser vermeiden. 

Eine weitere sehr interessante Perspektive, die ich bei der Auseinandersetzung mit den Big Five gewonnen habe, ist der sogenannte D-Faktor. Dahinter verbirgt sich der „dark factor“, den der Ulmer Professor Morten Moshagen zusammen mit zwei Kollegen in einer umfassenden Studie 2018 ausgemacht hat. Gemeint ist ein dunkler Kern der Persönlichkeit, der sich in unterschiedlicher Weise ausdrücken kann, wobei die bekanntesten Formen Narzissmus, Psychopathie und Machiavellismus sind – auch bekannt als die dunkle Triade. Ihr gemeinsamer Nenner ist eine ausgeprägt bösartige Form der Selbstsucht. Im äußersten Fall geht es dabei darum, anderen Menschen zu schaden, und zwar nur aus Selbstzweck. 

Den Fall des Narzissmus habe ich bereits in meinem Beitrag zum Thema Selbstwert erwähnt.

Dabei sind die Strategien des Narzissten schnell umrissen: Einerseits strebt er nach Perfektion und Besonders-sein; Mittelmaß ist ihm zuwider. Andererseits wertet er alle anderen Menschen ab, um im Vergleich mit ihnen selbst besser da zu stehen. Narzissten nehmen sowohl die eigenen als auch die fremden Schwächen wie unter einem Mikroskop wahr. Dies kann zu Aggression führen. Richtig problematisch wird es für den Narzissten, wenn er durch einen Rückschlag auf einmal auch sein Größenselbst als Versager betrachtet. Dann holt ihn seine Angst, total zu versagen, tatsächlich ein. Ausgeprägte Narzissten sind denn auch besonders selbstmordgefährdet.

Bei Psychopathie und Machiavellismus geht es vor allem darum, die eigenen Ziele „kaltblütig“ und ohne Rücksicht auf die Mitmenschen zu verfolgen. „Der geht über Leichen“, ist ein bekanntes Sprichwort, das diesen Wesenszug gut zusammenfasst. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen zwei Persönlichkeitszügen liegt in der Impulskontrolle: Der Psychopath ist darin schlechter, der Machiavellist besser, denn er geht strategischer vor. Professor Moshagen, der Experte auf dem Gebiet der dunklen Triade, geht so weit zu sagen, dass es sinnlos sei, zwischen beiden Persönlichkeitszügen zu differenzieren, „weil sie in dem, was sie dunkel macht, weitgehend gleich sind“. 

Interessant ist die Korrelation des D-Faktors mit den Big Five: Menschen, die über einen ausgeprägten dunklen Kern verfügen, sind wenig gewissenhaft und weniger verträglich. 

Mich mit den Persönlichkeitsmerkmalen des OCEAN-Modells, mit all diesen Dimensionen und Forschungen auseinanderzusetzen, hat mir sehr dabei geholfen, besser zu verstehen, wie sich Menschen im Beruf am besten einsetzen lassen, wer zu welcher Aufgabe passt.

Georgiy Michailov Managing Partner Dipl.-Volkswirt, B.M. (TSUoE)

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