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Die trügerische Illusion einer Work-Life-Balance

Autor

Georgiy Michailov

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Oder: Wie Sie weniger bereuen, wenn Sie sterben

Work-Life-Balance gleicht schon seit Jahren dem heiligen Gral der heutigen Arbeitswelt, auf jeden Fall innerhalb der LinkedIn-Blase. Mich hat das Thema persönlich schon länger bewegt, denn gemessen an dem, wofür dieses Schlagwort steht, müsste ich als Transformations- und vor allem Turnaround-Berater mein ganzes Leben in Frage stellen. Mit meinem Arbeitseinsatz verstoße ich im Grunde seit mehr als 20 Jahren massiv gegen dieses Ideal.

Bin ich deshalb im Nachteil oder gar unglücklich? Im Gegenteil! Ich fühle mich extrem privilegiert, dass ich während meiner Arbeitszeit auch ein tolles Leben führen darf, dass ich die Arbeit als Bereicherung meines Lebens empfinde, nicht als Last (und das ist es, was dieser Ansatz implizit unterstellt).

Wenn ich diesen Punkt in Diskussionen über Work-Life-Balance anführe, bekomme ich immer wieder vor allem zwei Argumente zu hören, die mir dann „entgegengeschleudert“ werden:

1.   Spannende Arbeit als Ausnahme

Das erste Argument lautet meist wie folgt: „Na ja, nicht jeder ist so privilegiert, wie du einen spannenden Job zu haben. Was würdest du sagen, wenn du den ganzen Tag an der Kasse sitzen müsstest oder den Müll einsammeln würdest?“

Abgesehen davon, dass unzählige Videos existieren, in denen Menschen auch solche Jobs mit Freude und viel Elan erledigen, möchte ich hier auf den Psychologen und Coach Jens Corssen verweisen, der einem Azubi einmal sinngemäß empfahl: „Auch wenn du die Koffer der Gäste nicht tragen magst, tue es mit Würde und aufrechtem Gang – du wirst den Unterschied merken.“

Übrigens: Wer als Kellner gut drauf ist und die Gäste beim Bedienen fröhlich anlächelt, bekommt laut wissenschaftlicher Untersuchungen doppelt so viel Trinkgeld wie Kellner ohne (aufrichtiges) Lächeln.

Ich selbst erinnere mich an meine sehr schöne Zeit bei Breuninger, dem auf Textilwaren spezialisierten Warenhausunternehmen. Während meines Studiums jobbte ich dort als Kundenberater. Ich mochte die Arbeit, ich mochte meine Kundschaft, und ich mochte es Menschen zu helfen, noch besser auszusehen. Ich war dann der einzige Aushilfsmitarbeiter, der eine eigene Visitenkarte bekam – weil er sehr viele Stammkunden hatte.

2.   Arbeit als Zeitdieb

Das zweite Argument bezieht sich auf das Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“, das die Australierin Bronnie Ware vor mehr als zehn Jahren veröffentlichte und zu einem Bestseller wurde. Ware hatte mehrere Jahre lang als Palliativpflegerin gearbeitet, und nach ihren Erfahrungen gehörte zu den Punkten, die Menschen am Ende ihres Lebens bereuen, insbesondere auch dieser: „Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.“

Dies scheint auch mir ein starkes Argument gegen die Arbeit als solche zu sein. Laut Ware bereuten es vor allem Männer, zu viel gearbeitet zu haben. Das Streben nach beruflichem Erfolg und finanzieller Sicherheit waren für diese Männer starke Motive gewesen, sehr viel zu arbeiten, doch darüber hatten sie ihre Familie und Freizeit vernachlässigt – was sie häufig erst (zu) spät erkannten.

Interessant wird an dieser Stelle jedoch die Perspektive, die im ersten Grund steckt, der von Ware angeführt wird: „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben, nicht das Leben, das andere von mir erwarteten.“

Wer sich nun das Leben vorstellt, dass er sich wünschen würde – hätte er in diesem Traumleben gar nicht gearbeitet? Hätte er keine Träume verfolgt, für die es sich gelohnt hätte, auch einmal Opfer zu bringen?

Unsere Einstellung zur Arbeit bewirkt einen entscheidenden Unterschied, wie wir unseren Job und die Tage, die Monate, die Jahre, die wir mit ihm verbringen, erleben. Mit der richtigen Einstellung kann Arbeit eine Quelle von Struktur, Sinn und sozialen Kontakten sein. Sie kann uns Erfüllung, Zufriedenheit und ein Gefühl von Kompetenz und Wertschätzung schenken.

Wie man sieht, ist es gar nicht so trivial, auf solch eine komplexe Frage eine simple Antwort zu geben. Ich erinnere gerne an die Aussage von Henry L. Mencken, einem US-Schriftsteller und Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts, der betonte:

„For every complex problem there is an answer that is clear, simple, and wrong.”

Ist die Idee einer Balance zwischen Arbeit und Leben in diesem Sinne klar, simpel und „wrong“?

Bei der Vorbereitung auf ein Gespräch mit Professorin Daniela Elsner, Dozentin für Coaching an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und Autorin des Buchs „Ausgebalanced“, konnte ich mich mit diesem Ansatz noch etwas spezifischer auseinandersetzen.

Daniela sieht – genau wie ich – Arbeit nicht als ein notwendiges Übel an, das wir nur auf uns nehmen, um uns ein echtes „Leben“ leisten zu können. Vielmehr ist Arbeit ein wichtiger Bestandteil eines erfüllten Lebens. So zeigen Studien zum Beispiel: Arbeitslosigkeit ist weltweit der Hauptgrund für Unzufriedenheit. Menschen, die einer Beschäftigung nachgehen, haben täglich 30 Prozent mehr positive emotionale Erlebnisse als Menschen ohne Arbeit. Diese positiven Erfahrungen resultieren vor allem aus Wertschätzung, Anerkennung, Aufstiegsmöglichkeiten und einem guten Arbeitsklima.

Wie befriedigen wir nun aber die Ansprüche all der Lebensdimensionen, die um unsere begrenzte Zeit konkurrieren, wie Familie, Freunde, Gesundheit, Bildung oder eben die Arbeit?

Daniela plädiert für ein „Tailor-your-life-Prinzip“. Dieses Konzept betrachtet das Leben als einen Flickenteppich, den wir individuell nach unseren Bedürfnissen und Prioritäten immer wieder aufs Neue zusammensetzen. Es geht nicht darum, allen Lebensbereichen zu jeder Zeit gleich viel Aufmerksamkeit zu schenken, sondern darum, dass jeder für sich entscheidet, was ihm gerade wichtig ist und wie er seine Zeit, seine Energie am besten einsetzt.

Um unser Leben erfolgreich in diesen Teppich hineinzuweben, empfiehlt Daniela mehrere interessante Ansätze, um die Spannungen zwischen den vielen verschiedenen Lebensdimensionen aufzulösen:

1.   Selbstreflexion und Standortbestimmung: Regelmäßiges Hinterfragen der eigenen Bedürfnisse und Wünsche.

2.   Aus der Opferrolle herauskommen: Die Verantwortung für das eigene Leben und die eigenen Entscheidungen annehmen.

3.   Klare Prioritätensetzung: Sich auf das konzentrieren, was wirklich zu den eigenen Werten und Zielen passt sowie wichtig (und nicht nur dringend) ist.

4.   Sehr diszipliniert Fokus bewahren: Sich auf das Wesentliche konzentrieren und Ablenkungen minimieren.

5.   Die richtige Haltung einnehmen: Eine Weltanschauung kultivieren, die Zufriedenheit und Gelassenheit fördert.

Alle diese Strategien tragen dazu bei, Arbeit und Privatleben nicht als konkurrierende, sondern als sich ergänzende Bereiche zu betrachten. Es geht darum, die eigenen Prioritäten zu setzen und das Leben aktiv nach individuellen Bedürfnissen und Werten zu gestalten.

Und wer das Gefühl hat, dass etwas nicht stimmt, dass er nicht im Einklang mit sich selbst lebt, der sollte sich den ersten Punkt aus Bronnie Wares Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ vor Augen führen und sehr ehrlich die Frage beantworten:

Lebe ich mein eigenes Leben – oder das Leben, das andere von mir erwarten?

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