Oder: Warum sich diese Frage nur individuell beantworten lässt
Beim Hören eines Podcast mit dem Briten Richard Dawkins, einem der bedeutendsten Evolutionsbiologen und lautesten Religionskritiker der Gegenwart, bin ich neulich auf den Begriff „Inkompatibilismus“ gestoßen. Aus Interesse habe ich weiter recherchiert, was es damit auf sich hat, und es stellte sich heraus, dass es dabei um die Existenz – oder Grad und Ausprägung – des freien Willens in unserem Leben geht.
Das Konzept des freien Willens besagt, dass Menschen die Fähigkeit und Möglichkeit besitzen, aus eigenem Antrieb Entscheidungen bewusst zu treffen und Handlungen auszuführen, ohne durch externe Faktoren vollständig determiniert zu sein. In der Debatte darüber gibt es vor allem drei Lager:
▪ die Deterministen, die dieses Konzept für eine Illusion halten,
▪ die libertären Inkompatibilisten, die den Determinismus ablehnen, und
▪ die Kompatibilisten, die überzeugt sind, dass sich das Konzept des freien Willens und der Determinismus miteinander versöhnen lassen.
Der harte Determinismus postuliert, dass alle Ereignisse, einschließlich menschlicher Entscheidungen und Handlungen, durch vorhergehende Ursachen vollständig bestimmt sind. Somit wäre jeder Zustand des Universums vollständig durch vorhergehende Zustände und die Naturgesetze beeinflusst. In einer streng deterministischen Welt gibt es zu jedem Zeitpunkt nur eine mögliche Zukunft – eine Zukunft, die durch die Vergangenheit und die unveränderlichen Gesetze der Physik festgelegt ist. Oder wie Godehard Brüntrup, Professor für Philosophie an der Hochschule für Philosophie in München, sagt:
„In einer deterministischen Welt gibt es letztlich überhaupt keine Handlungen, sondern nur Geschehnisse.”
Ein bekannter Vertreter einer radikal deterministischenPosition ist Robert Sapolsky, Professor an der Stanford University, renommierter Neurowissenschaftler, und Autor des Buches „Determined: A Science of Life Without Free Will“. Für Sapolsky ist unser Verhalten das Ergebnis einer komplexen, aber vollständig kausalen Kette von Ereignissen, die von unseren Genen über unsere frühkindlichen Erfahrungen bis hin zu den unmittelbaren Umwelteinflüssen reicht. Selbst unsere scheinbar bewussten und freien Entscheidungen sind in dieser Sichtweise am Ende doch nur das Produkt unbewusster neuronaler Prozesse und biologischer Determinanten.
„You cannot decide all the sensory stimuli in your environment, your hormone levels this morning, whether something traumatic happened to you in the past, the socioeconomic status of your parents, your fetal environment, your genes, whether your ancestors were farmers or herders. Let me state this most broadly, probably at this point too broadly for most readers: we are nothing more or less than the cumulative biological and environmental luck, over which we had no control, that has brought us to any moment.”
Um seine Position zu verdeutlichen, schildert Sapolsky ein einfaches Beispiel: Zwei Personen schauen denselben Film. Die eine Person kommt inspiriert aus dem Kino heraus und spendet ihr Erspartes an „Ärzte ohne Grenzen“, die andere ist verärgert und verlangt ihr Geld zurück. Beide handeln mit Absicht und Wahl, doch warum bilden sie unterschiedliche Absichten?
Sapolsky zufolge sind ihre Handlungen das Ergebnis von Faktoren wie Stress, Hormonen, Kindheitserfahrungen und Genetik, alles Dinge, über die sie keine Kontrolle hatten.
Sapolsky stützt seine Argumentation unter anderem auf einberühmt gewordenes Experiment, das der amerikanische Physiologe Benjamin Libet um das Jahr 1980 herum durchführte. Libet konnte nachweisen, dass das Gehirn bereits eine messbare Aktivität zeigt, bevor eine Person sich bewusst entscheidet, eine einfache Handbewegung auszuführen (die Rede ist vom „Bereitschaftspotential“, der zeitliche Abstand beträgt etwa 0,35 Sekunden). Dieses Ergebnis wurde von vielen als Beweis dafür betrachtet, dass unsere bewussten Entscheidungen nur eine Rationalisierung von Prozessen darstellen, die unbewusst schon vorher in Gang gesetzt worden sind.
Allerdings ist die Interpretation dieser Experimente umstritten. Kritiker argumentieren, dass die gemessenen neuronalen Aktivitäten lediglich Vorbereitungen für mögliche Handlungen darstellen und nicht notwendigerweise die endgültige Entscheidung repräsentieren. Zudem weisen sie darauf hin, dass selbst dann, wenn bewusste Entscheidungen durch unbewusste Prozesse vorbereitet werden, dies nicht automatisch bedeute, dass kein freier Wille existiere.
So argumentiert Brüntrup zum Beispiel, dass viele Handlungen wie das Schalten oder Lenken beim Autofahren mehr oder minder automatisch ablaufen, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen. Trotzdem würden wir nicht behaupten, dass wir unfreiwillig von einem Ort zum anderen fahren.
Um die Existenz des freien Willens zu widerlegen, wäre letzten Endes nachzuweisen, dass selbst die wohl überlegte Entscheidung, zwecks Urlaubs zum Beispiel nach Australien zu reisen, nicht der Kontrolle des Individuums unterliegt. Es wäre notwendig zu zeigen, dass der Prozess des Abwägens von Argumenten für und gegen die Reise, die Entscheidung für die Buchung und der Antritt des Flugs sich völlig außerhalb des bewussten Einflussbereichs der Person abspielt.
Nehmen wir einmal für einen Moment an, die Deterministen hätten Recht – was wären die Implikationen dieser Sichtweise? Wenn alle unsere Handlungen das unvermeidliche Ergebnis vorhergehender Ursachen sind, wie können wir dann von Freiheit oder moralischer Verantwortung sprechen? Robert Sapolsky argumentiert zum Beispiel, dass ein tieferes Verständnis der determinierenden Faktoren menschlichen Verhaltens zu mehr Empathie und einem weniger straforientierten Umgang mit abweichendem Verhalten führen könnte.
Am entgegengesetzten Pol der Debatte stehen jene, die argumentieren, dass wahrer freier Wille und Determinismus unvereinbar, sprich inkompatibel sind. Sie werden Inkompatibilisten genannt, und weil sie sich – vor die Wahl gestellt – für den freien Willen und gegen den Determinismus entscheiden, werden sie von Sapolsky auch als „libertäre Inkompatibilisten“ bezeichnet. Diese Gruppe beruft sich häufig auf Konzepte aus der Quantenphysik, um zu begründen, warum echte Indeterminiertheit in der Natur möglich ist. Sie postuliert, dass der Mensch unter vielen Alternativen und Möglichkeiten vollkommen frei wählen könne.
Libertarische Philosophen – wie der im April verstorbene US-Professor Robert Kane, oder Professor Geert Keil von der Humboldt-Universität zu Berlin – vertreten die Ansicht, dass es zumindest einige Entscheidungen geben müsse, die nicht vollständig durch vorhergehende Ursachen determiniert sind.
Für Kane ist eine Entscheidung nur dann tatsächlich frei, wenn der Handelnde selbst Ursprung seiner Wünsche und Absichten ist. Er spricht sogar von einer „Letztverantwortlichkeit“ – danach ist ein Handelnder nicht nur für seine Handlung, sondern auch für deren kausale Vorgänger verantwortlich.
Dies ist mit einem harten Determinismus unvereinbar. Dieser postuliert das genaue Gegenteil, nämlich dass alle Handlungen durch Ursachen vor der Geburt bestimmt sind, für die derHandelnde nicht verantwortlich sein kann.
Zwischen dem harten Determinismus und dem strengen Inkompatibilismmus steht der Kompatibilismus. Dieser versucht, die Argumente des Determinismus und das Konzept der Willensfreiheit miteinander in Einklang zu bringen.
Ein prominenter Vertreter dieser Denkrichtung war der in diesem Jahr verstorbene US-Philosoph Daniel Dennett, der in seinem Buch „Freedom Evolves“ für ein nuancierteres Verständnis von Freiheit plädiert.
Für Kompatibilisten wie Dennett ist Willensfreiheit nicht die Abwesenheit von Ursachen, sondern die Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln, indem der Einzelne Gründe abwägt und reflektierte Entscheidungen trifft. Dennett argumentiert, dass die Evolution dem Menschen die Fähigkeit zur Selbstkontrolle verliehen habe – eine Fähigkeit, die die Grundlage für verantwortungsbewusstes Handeln bilde.
„And what civilization has done is, over the centuries, over the millennia, what civilization has done is to distill out the most important skills for making people safe and reliable citizens, and that is, do they have the skill of self-control? Now, that's what evolution is all about. Evolution is about the evolution of the skill of self-control, and we are better self-controlled because we have many more degrees of freedom than any other living thing on the planet. We have a lot more skill. If a tree falls and kills somebody, we don't hold it responsible. It doesn't have the skill, it doesn't have the perceptual organs, it's not able to prevent foreseeable damages because it can't foresee—but we can.”
In dieser Sichtweise ist Willensfreiheit keine metaphysische Eigenschaft, sondern eine soziale und kognitive Errungenschaft. Demnach besitzen wir, selbst wenn unsere Entscheidungen durch eine Kette von Ursachen beeinflusst werden, die Fähigkeit, diese Einflüsse zu reflektieren, uns bei Bedarf gegen sie zu wenden und stets in Übereinstimmung mit unseren Werten und Überzeugungen zu handeln. Diese Fähigkeit ermöglicht es uns, in einer geordneten Gesellschaft zu leben, in der Menschen für ihre Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden können.
Der Kompatibilismus bietet einen Mittelweg zwischen der Annahme einer absoluten, metaphysischen Freiheit und der Überzeugung, in einer Welt des harten Determinismus zu leben. Diese Denkrichtung erkennt an, dass unsere Handlungen durch vielfältige Faktoren beeinflusst werden, besteht aber darauf, dass unsere Fähigkeit zur Reflexion und bewussten Entscheidung eine Form der Freiheit darstellt, die moralisch und praktisch bedeutsam ist. Daniel Dennett sagt:
„Isn't it true that whatever isn't determined by our genes must be determined by our environment? What else is there? There's Nature and there's Nurture. Is there also some X, some further contributor to what we are? There's Chance. Luck. This extra ingredient is important but doesn't have to come from the quantum bowels of our atoms or from some distant star. It is all around us in the causeless coin-flipping of our noisy world, automatically filling in the gaps of specification left unfixed by our genes, and unfixed by salient causes in our environment.”
Nach dem ersten Überblick über diese anspruchsvolle Materie habe ich mich bei den Kompatibilisten verortet. Darüber hinaus betrachte ich diese Perspektive als günstig fürs Leben. In diesem Punkt stimme ich auch mit Lilli Loton überein, die vor einem Jahr einen Beitrag zu diesem Thema aus der Perspektive von Viktor Frankl und der Logotherapie veröffentlicht hat. Dabei hat sie Frankl mit diesen Worten zitiert:
„Das Schicksal gehört zum Menschen wie der Boden, an den ihn die Schwerkraft fesselt, ohne die aber das Gehen unmöglich wäre. Zu unserem Schicksal haben wir zu stehen wie zu dem Boden, auf dem wir stehen – ein Boden, der das Sprungbrett für unsere Freiheit ist.“
Darüber hinaus hat sie auf Studien verwiesen, die darauf hindeuten, dass der Glaube an einen freien Willen sich vorteilhaft auf unser Sozialverhalten auswirkt. Wer am freien Willen zweifelt, scheint dies tendenziell als Einladung, jaEntschuldigung zu verstehen, sich unmoralisch zu verhalten, frei nach dem Motto: Ich konnte nicht anders.
Ich zitiere sie:
„In einem Experiment von Vohs & Schooler wurde Studenten die Möglichkeit gegeben, bei der Lösung von Aufgaben zu schummeln. Dem ersten Teil der Studienteilnehmer wurden zuvor wissenschaftliche Texte vorgelegt, welche Argumente gegen die Willensfreiheit enthielten, der andere Teil erhielt einen neutralen Text. Teilnehmer, welche zuvor überzeugt wurden, es gäbe keine Willensfreiheit, schummelten signifikant öfter als diese, welche den neutralen Text erhalten hatten.
Auch der zweite Test, bei welchem es um Geld ging, kam zu solch einem Ergebnis. Gruppe eins sprach sich insgesamt deutlich höhere Beträge zu, als ihnen zustand – verhielt sich also tatsächlich unmoralischer als die andere Gruppe.
Der Glaube an den freien Willen hilft uns also, die Verantwortung für uns selbst, unser Handeln und auch für das soziale Miteinander zu übernehmen.“
Harte Deterministen, libertäre Inkompatibilisten oder Kompatibilisten – welchem Lager würden Sie sich zuordnen?