Oder: Wie wirksame Diversität funktioniert
Unterschiedliche Gäste in unserem Podcast bringen inspirierende Perspektiven ein, die ich in dieser Form gar nicht erwartet habe. Dementsprechend habe ich mit großer Freude den 2022 erschienenen Bestseller „Flow@Work: Gehirngerecht führen – die besten Leute gewinnen und halten“ verschlungen. Verfasst hat es Friederike Fabritius britius, eine studierte Neurowissenschaftlerin, Beraterin und Keynote-Speakerin.
Mich hat vor allem ihre Perspektive auf Diversität beeindruckt. Demnach werden die Unterschiede nicht durch das Alter, das Geschlecht oder den kulturellen Kreis bestimmt, sondern vor allem durch die Neurosignaturen geprägt. Denn diese beeinflussen das mentale Modell eines Menschen signifikant.
Das Konzept der Neurosignatur geht zurück auf Helen Fisher, eine bekannte US-Anthropologin und Verhaltensforscherin, die sich auf die Neurobiologie der Liebe und zwischenmenschliche Beziehungen spezialisiert hat. Helen Fisher hat ein Modell entwickelt, das auf der Chemie des Gehirns basiert und sich der Frage widmet, wie diese Chemie unsere Persönlichkeiten und romantischen Beziehungen beeinflusst. Wenn man diese neurowissenschaftliche Herangehensweise aufgreift, kann man auch Führung aus einer anderen Perspektive betrachten. Oder wie Friederike es auf den Punkt bringt:
„Effective leadership isn’t an art. It’s a science.“
Es gibt vier grundlegende Temperamentdimensionen, die sie auf die Dominanz bestimmter Neurotransmitter (konkret: Dopamin und Serotonin) und Hormone (konkret: Testosteron und Östrogen) im Gehirn zurückführt:
Explorer (Dominanz von Dopamin): Diese Menschen sind neugierig, kreativ, spontan und energiegeladen, aber auch schnell gelangweilt. Sie haben viel Energie und lieben Veränderungen, sind manchmal leichtsinnig.
Builder (Dominanz von Serotonin): Charakterisiert durch soziale Normen und Traditionen, sind diese Personen oft ruhig, gewissenhaft und gut organisiert. Diese Menschen brauchen Routinen und Stabilität. Sie können besonders gut Vertrauen aufbauen, neigen jedoch dazu, sich in der Akribie zu verlieren.
Director (Dominanz von Testosteron): Diese Menschen neigen dazu, sehr analytisch, entscheidungsstark und direkt zu sein. Meistens sind sie keine Meister der Empathie, was ihnen hilft, sich besser durchzusetzen und die Ziele zu erreichen.
Negotiator (Dominanz von Östrogen): und damit verbundenen Hormonen – Diese Individuen sind oft empathisch, intuitiv, verbal geschickt und gut im Umgang mit Menschen. Diese Menschen sind sehr selbstreflektiert und neigen zur Grübelei.
Wir alle vereinen in uns diese Dimensionen, jedoch in unterschiedlichen Verhältnissen. Männer weisen dabei zwar oft eine Testosteron-dominierte Neurosignatur auf, aber nicht ausschließlich: Etwa 30 Prozent der Männer besitzen eine Östrogen-Signatur, zumindest nach Daten, die das US-Unternehmen NeuroColor mit Friederike Fabritius geteilt hat.
Grundsätzlich gilt: Jede dieser Signaturen bringt individuelle Stärken und Schwächen mit sich, und keine ist der anderen überlegen. In der Geschäftswelt dominieren jedoch die Personen mit einer Mischung aus Dopamin und Testosteron. Führungskräfte weisen – ebenfalls laut Daten von NeuroColor – zu etwa 73 Prozent bei Männern und 65 Prozent bei Frauen eine solche Kombination auf. Daher ist unsere Arbeitskultur stark von diesen Signaturen bestimmt. Diejenigen, die anders geprägt sind, sehen sich gezwungen, sich anzupassen und leben somit ständig im Widerspruch zu ihrer natürlichen Veranlagung. Diese Anpassung fordert erhebliche kognitive Ressourcen und führt zu einem anstrengenden Alltag. Eine Rolle zu spielen, die nicht der eigenen Identität entspricht, ist kräftezehrend.
So entsteht Fabritius zufolge ein sogenanntes „Neurogap“, eine Diskrepanz zwischen der Arbeitsumgebung und der eigenen Neurosignatur. Aus diesem Grund sind so viele Menschen entweder gelangweilt oder gestresst am Arbeitsplatz.
Längere Arbeitszeiten, eine harte Wettbewerbsmentalität und Stress werden von Personen mit einer Dopamin-Testosteron-Signatur eher bewältigt als von jenen mit anderen Signaturen, die unter diesem Druck leiden und dadurch gehindert werden, ihre Höchstleistung zu erbringen. Ein solches Arbeitsumfeld ist für Menschen mit Östrogen- und Serotonin-Signaturen schlicht belastend und frustrierend.
Für Friederike gilt allerdings: Um optimal zu funktionieren, benötigen menschliche Gemeinschaften – und somit auch Unternehmen – alle Signaturen. Sie schreibt dazu:
„Let people play to their strengths instead of wasting energy trying to change their personalities.“
Wurde in der Frühgeschichte der Menschheit zum Beispiel eine neue Pilzart entdeckt, probierten höchstwahrscheinlich die Dopamin-getriebenen Individuen diese sofort aus, während die vom Serotonin beeinflussten Menschen vorsichtig abwarteten, um potenzielle Risiken zu vermeiden. So wurden Gefahren minimiert und zugleich Neuentdeckungen gemacht. Dieses Prinzip unterstreicht, wie kognitive Vielfalt uns als Kollektiv erfolgreicher macht.
Was in der Steinzeit galt, ist auch heute in modernen Unternehmen von Relevanz. Je mehr unterschiedliche Perspektiven in Form von unterschiedlichen Neurosignaturen zusammengeführt werden, desto kreativer und innovativer wird die Atmosphäre. Es ist an der Zeit, dass Unternehmen eine Kultur etablieren, in der sich alle Persönlichkeitstypen wohl fühlen.
Implementieren Sie zum Beispiel eine ergebnisorientierte Kultur. Reduzieren Sie Arbeitsstunden und Meeting-Zeiten. Der entscheidende Schritt zu einer Unternehmenskultur, die alle Neurosignaturen berücksichtigt, besteht darin, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach ihren Leistungen und nicht nach ihrer Anwesenheit im Büro zu bewerten. Kein menschliches Gehirn ist darauf ausgelegt, sich länger als drei Stunden am Stück zu konzentrieren. Im Durchschnitt sind Menschen während eines achtstündigen Arbeitstages nur drei Stunden wirklich produktiv.
Fördert ein Unternehmen eine gesunde Kultur, erbringen auch Mitarbeiter mit Serotonin- und Östrogen-Signaturen Höchstleistungen. So kann die Begrenzung der Meeting-Dauer hilfreich sein. Es gibt selten Fragen, die ewig diskutiert werden müssen. Der Rest der Meeting-Zeit wird oft für die Selbstdarstellung von Dopamin-Testosteron-Personen ver(sch)wendet.
Das Fundament einer leistungsorientierten Kultur ist Vertrauen. Ein beliebter Spruch, der auf den Titel eines Buches des berühmten deutschen Soziologen, Gesellschafts- und Systemtheoretikers Niklas Luhmann zurückgeht, bringt den Grund dafür so auf den Punkt:
„Vertrauen reduziert Komplexität.“
Vertrauen aufzubauen ist ein langsamer Prozess. Es zu zerstören, kann indes sehr schnell gehen. Einige Schritte zur Förderung einer Vertrauenskultur sind offensichtlich, werden aber oft übersehen. Beispielsweise sollten Führungskräfte stets möglichst transparent und fair im Führungsprozess sein.
Schwächen zuzugeben und Fehler einzugestehen, ist für den vertrauensvollen Umgang essenziell. In Zeiten von Zoom und E-Mail ist der persönliche, physische Kontakt besonders wichtig. Menschen, die sich im realen Leben kennen, bauen leichter Vertrauen auf.
Die Neurosignatur gibt keinen Aufschluss darüber, ob jemand introvertiert oder extravertiert ist. Introvertierte Menschen werden indes im Arbeitsleben ebenfalls systematisch unterschätzt. Der wesentliche Unterschied zwischen Intro- und Extravertierten besteht dabei darin, dass die erstere Gruppe sich zurückzieht, um ihre Batterien wieder aufzuladen, während die letztere dazu Gesellschaft benötigt. Introvertierte werden oft übersehen und seltener befördert, weil sie sich nicht in den Vordergrund drängen. Firmen- und Netzwerkveranstaltungen sind ihnen ein Gräuel, was zu weniger Beachtung und selteneren Beförderungen führt. Auch die Firmenkultur wird weniger stark von ihnen geprägt.
Das bedeutet sehr häufig, Potenzial zu verschenken, denn 75 Prozent der Menschen mit einem IQ von mehr als 160 sind introvertiert.
Was allerdings nicht automatisch heißt, dass umgekehrt auch 75 Prozent aller Introvertierten einen IQ von mehr als 160 haben.
Introvertierte können ausgezeichnete Arbeits- und Führungskräfte sein. Ihre intrinsische Motivation ist tendenziell höher als bei extravertierten Menschen. Sie sind weniger anfällig für Gruppendruck und folgen eher ihrem moralischen Kompass, was Unternehmen vor Skandalen schützen kann.
Wie lässt sich eine Unternehmenskultur schaffen, in der introvertierte Menschen sich wohlfühlen? Zunächst müssen ausreichend Rückzugs- und Ruheorte vorhanden sein. Wer möchte, sollte die Bürotür schließen dürfen. Außerdem ist es für introvertierte Menschen wichtig, dass sie nicht zu Gesprächen und Zusammenkünften gezwungen werden. Sie sind dankbar für kurze Meetings und froh, wenn sie nicht angerufen werden – insbesondere, wenn eine E-Mail denselben Zweck erfüllt.
Es gibt noch einen weiteren, sehr wichtigen Aspekt der Neurodiversität. Solche Unternehmen vermeiden Gruppendenken deutlich effektiver als klassische Unternehmen.
Gruppendenken ist ein sozialer Mechanismus, bei dem abweichende Denkstile unterdrückt werden. Wo Gruppendruck herrscht, werden häufiger falsche Entscheidungen getroffen und Innovationen im Keim erstickt.
„Where all think alike, no one thinks very much.”
Das schrieb einst Walter Lippmann, der große US-Journalist, der mit einem Buch die moderne Medienwissenschaft mitbegründete.
Was bewegt uns dazu, uns dem Gruppendruck zu beugen?
Der psychologische Grund dafür liegt wiederum in der Evolution und unserem Drang, der Mehrheit zu folgen und mit ihr übereinzustimmen.
Es ist interessant zu beobachten: Je unsicherer wir uns aufgrund einer mehrdeutigen und unklaren Situation fühlen, desto eher neigen wir dazu, der Gesellschaft zu folgen.
Die Schattenseiten dieses Phänomens zeigte ein Experiment in den USA, das der Psychologe Solomon Asch im Jahr 1951 beschrieb und sehr bekannt werden sollte. Im Zentrum stand dabei der Einfluss der Meinung oder des Urteils einer Gruppe auf die Meinung oder das Urteil eines Individuums. In dem Experiment ging es für Versuchspersonen darum zu entscheiden, welche Linie auf einer Vergleichskarte (rechts) gleich lang ist wie die Linie auf der Standardkarte (links). In der Kontrollgruppe, in der 37 Versuchsteilnehmer ihre Antwort schriftlich notierten, wurde die Aufgabe fast immer korrekt gelöst – im gezeigten Beispiel wählten sie „C“.
Der spannendste Teil des Experiments bestand in der Versuchsgruppe. Dabei saß jeweils eine unwissende Versuchsperson in einem Raum mit sieben anderen Personen – die über den Zweck des Experiments im Bilde waren. Die Anwesenden sollten nun nacheinander angeben, welche der Linien auf der Vergleichskarte die gleiche Länge wie die Ausgangslinie hatte. In den ersten zwei von insgesamt 18 Durchgängen (mit unterschiedlichen Linien) gaben alle Eingeweihten sowie die eigentliche Versuchsperson die richtige Antwort. In 12 der 16 folgenden Durchgänge hingegen antworteten die sieben Insider absichtlich falsch, sprich sie gaben eine andere Antwort als die richtige – und zwar alle.
Das Ergebnis war erstaunlich: Von insgesamt 50 männlichen Versuchspersonen gab nur ein Viertel stets die richtige Antwort, ohne sich an der Gruppenmeinung zu orientieren. 75 Prozent hingegen schlossen sich mindestens einmal dem falschen Urteil der Gruppe an. Insgesamt fielen 32 Prozent aller Antworten der Versuchspersonen in den manipulierten Durchgängen falsch aus. Diese Anpassung an die Mehrheitsmeinung einer Gruppe wird heute als Asch-Effekt bezeichnet und zeigt die Wirkung sozialer Einflüsse auf individuelle Entscheidungen – sprich sozial konformes Verhalten.
Aus diesem Grund kann auch Anonymität dabei helfen, problematische Gruppendynamik zu vermeiden. So kann es sich beispielsweise lohnen, dass vor einem Meeting alle Teilnehmenden ihre Ideen anonym notieren. Denn wenn sich erst mal eine Denkrichtung herauskristallisiert hat, halten viele Menschen ihre ursprünglichen Ideen zurück, um nicht anzuecken. Ähnliches gilt für Abstimmungen: Auch sie sollten anonym erfolgen.
Natürlich geht es in Arbeitsgruppen, die Neurodiversität zulassen, oft stürmisch zu. Aber genau das ist das Ziel: Sie wollen alle Sichtweisen kennen, bevor Sie sich für eine entscheiden.
Erinnern Sie sich an Galileo Galilei: Für seine Behauptung, dass die Erde um die Sonne kreist, wurde er zu Hausarrest verurteilt und aus der Kirche ausgeschlossen. Dennoch hatte er Recht. Jedes Unternehmen, das mehr Galileis unter seinen Mitarbeitenden haben möchte, sollte sich heute mit dem Thema Neurodiversität auseinandersetzen und sie gezielt fördern.