Oder: Wie Unternehmen auch in einer komplexen Realität erfolgreich agieren
Von VUCA zu TUNA? Vor rund 30 Jahren prägte das US-Militär das Kürzel VUCA, das für die Begriffe Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity steht. Es sickerte in die Managementliteratur ein und ist bis heute weit verbreitet, um die immer komplexere, immer schneller werdende Welt zu beschreiben. Doch ich finde zunehmend Gefallen an einem neuen, im britischen Oxford entwickelten Akronym: TUNA.
TUNA steht für Turbulent, Uncertain, Novel und Ambiguous. Es weist eine gewisse Ähnlichkeit zu VUCA auf, beschreibt aber die Herausforderungen vieler Unternehmen und Manager im Jahr 2022 noch besser. Die Welt „turbulent“ statt „volatil“ zu nennen, trifft den heftigen, alles durcheinander wirbelnden Charakter vieler Ereignisse genauer, etwa der Lockdowns weltweit, des Zusammenbruchs der globalen Lieferketten oder der sehr plötzlichen, sehr hohen Inflation. Und eine Pandemie oder ein Krieg in Europa sind zwar auch „complex“, vor allem aber doch „novel“, neuartig, alles verändernd.
Nach mehreren Jahrzehnten des Wirtschaftswachstums stehen Führungskräfte vor wahrlich großen Herausforderungen. Wer für 2022 auf ein Ende der Pandemie und damit eine Rückkehr zur Normalität gehofft hatte, dessen Erwartungen wurden durch den Krieg in der Ukraine radikal enttäuscht. Nur wenige von uns haben so eine Situation schon einmal erlebt, und selbst für die massive Inflation, die durch die Verwerfungen an den Energie- und Rohstoffmärkten entstanden ist, müssen wir mehr als 30, 40 Jahre zurückgehen, um Vergleichbares zu finden. All das verändert die Aufgaben und die Bedeutung von Führung. War in der Wirtschaft in den vergangenen Jahren vor allem über „flache Hierarchien“ und „Agilität“ diskutiert worden, so gewinnen schnelle und manchmal radikale Entscheidungen aktuell wieder rasant an Bedeutung.
Hat Führung somit in der TUNA-Welt einen neuen Zweck? Und wie sieht Führung aus, die diesem Zweck gerecht wird?
Bereits vor zehn Jahren, in seinem Klassiker „Radikal führen“, brachte der Managementguru Reinhard K. Sprenger die Verhältnisse sehr klar – und aktueller denn je – auf den Punkt:
„Der Zweck der Führung lautet: das Überleben des Unternehmens zu sichern.“
Nur ist diese Aufgabe noch schwieriger geworden. Die Welt von heute ist so komplex, so voller Verwerfungen, dass außergewöhnliche Flexibilität gefragt ist. Situationen wie diese, die kaum einer kommen sah und kaum einer kennt, verlangen von Managern neue Lösungsmuster. Diese Lösungsmuster gilt es unter hoher Unsicherheit und enormer Komplexität zu entwickeln, und zwar nicht in einem entspannten Workshop, sondern im laufenden Betrieb, hier und jetzt. Dietrich Dörner, Deutschlands führender Forscher auf dem Gebiet der kognitiven Psychologie, beschreibt derlei Herausforderungen wie folgt:
„Komplexe Entscheidungssituationen gleichen einem Schachspiel, in dem sich ein Großteil der Figuren im Nebel befindet.“
Einfache Rezepte helfen da wenig – dafür ist die aktuelle Lage zu facettenreich und zu ernst.
Einen hilfreicheren Ansatz bietet David J. Snowden, ein führender Forscher auf dem Gebiet des Wissensmanagements und der angewandten Komplexitätswissenschaft. Er nannte ihn „Cynefin“, nach einem walisischen Wort, das für die vielen Faktoren in unserer Umwelt steht, die uns beeinflussen, ohne dass wir uns dessen immer gewahr sind. Bereits vor 15 Jahren im Harvard Business Manager vorgestellt, verschafft dieser Ansatz Managern eine gute Basis für Entscheidungen – abhängig vom Kontext, vom Erfahrungshorizont und vom Beziehungsgeflecht der Führungskraft.
Vereinfacht gesagt, unterscheidet dieser Ansatz drei Grundsysteme, drei Situationen.
Erstens: geordnete Systeme, die jedoch von einfach bis kompliziert schwanken können. Diese Systeme zeichnen sich bereits ex ante durch eindeutige kausale „Wenn-dann“-Beziehungen aus. Die Ergebnisse von Handlungen sind klar prognostizierbar. Sie erfordern entweder „Best Practices“ oder – im Fall komplizierter Herausforderungen – explizites Erfahrungswissen von Experten. So lässt sich selbst die Armbanduhr Aeternitas Mega von Franck Muller, die 36 Komplikationen und 1483 Einzelteile zählt und mehr als 2,5 Millionen US-Dollar kostet, durch einen Experten auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Die Herausforderung für die Führung liegt in diesen Systemen darin, die Lösungsräume zu erkennen und Lösungen effektiv auszuführen.
Zweitens: komplexe Systeme, wie sie heute meist im Fokus stehen. Bei ihnen können Manager nicht auf Best Practices oder bewährte Rezepte der Vergangenheit zurückgreifen. Hier können wir die kausalen Beziehungen erst ex post feststellen, da die einzelnen Elemente einander bedingen und für neue Entwicklungsmuster sorgen können. So ist der Schwarzwald zum Beispiel ein hochkomplexes Gebilde, das permanent im Fluss ist und von so unterschiedlichen Variablen wie Wetter, Försterei, Tieren usw. abhängt, weshalb das Ganze deutlich mehr ist als die Summer der Einzelteile. Snowden schrieb 2007 über solche Systeme:
„This is the realm of „unknown unknowns”, and it is the domain to which much of contemporary business has shifted.”
Bei den „unknown unknowns“ – einem Begriff, der Jahre zuvor durch eine Bemerkung des damaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld berühmt geworden war – handelt es sich um Dinge, von denen wir nicht einmal wissen, dass wir sie nicht wissen (im Gegensatz zu den Dingen, die wir wissen, und den Dingen, von denen wir wissen, dass wir sie nicht wissen). In der Wirtschaft bedeutet diese Unsicherheit der zweiten Ordnung, dass die Führung in einen Sondierungsmodus wechseln und laufend lernen muss, wie sich das System verändert. Sie befindet sich dann in einem iterativen Lernprozess, der das ständige, konsequente Nachjustieren des eigenen Handelns nach sich zieht. Dabei können sogenannte „Emergent Practices“ entstehen – neue Handlungsmuster, die sich als sinnvoll herausstellen.
Das Problem: Unter komplexen und unsicheren Rahmenbedingungen scheitern Manager häufig. Dietrich Dörner, der sich intensiv mit dem Denken und Handeln des Menschen befasst hat, führt dies vor allem auf zwei Ursachen zurück. Ein Grund sei das niedrige Selbstwertgefühl vieler Führungskräfte. Diese seien meistens nicht imstande, das eigene Denken zu reflektieren, geschweige denn in Zweifel zu ziehen. Selbstkritik kratze am eigenen Selbstbewusstsein und unterbleibe deshalb, so Dörner:
„As such persons cannot cope with failures, they will exhibit a strong tendency to avoid self-criticism.”
Der zweite Grund ist ein Mangel an Fantasie, wie neue Wege aussehen könnten, und ein Mangel an Mut, die bewährten Erfolgspfade der Vergangenheit zu verlassen. Beides ist unter komplexen und unbekannten Umständen wenig zielführend.
Drittens sieht Snowden chaotische Systeme – Systeme, in denen jede Ordnung fehlt. Chaos sorgt meist temporär für einen Zustand ohne kausale Muster oder Einschränkungen und basiert eher auf Zufall. Die Aufgabe der Führung besteht in solchen Systemen darin, in einer neuartigen Situation schnell und konsequent zu handeln, um die Situation durch Einführung von Einschränkungen möglichst schnell zu stabilisieren. Ein Großbrand in Kalifornien ist ein typischer Chaoszustand. Anfangs unbeherrschbar, lässt er sich durch rasches, entschlossenes Handeln der Löschkräfte Schritt für Schritt in einen kontrollierte(re)n Zustand überführen.
Betrachten wir Snowdens drei Kategorien aus der Warte eines Managers, so wird rasch klar: Unter komplexen, ja gar chaotischen Zuständen Entscheidungen zu treffen, braucht jede Menge Mut. In solchen Situationen fallen verlässliche Prognosen schwer, und sie erfordern die Fähigkeit und Bereitschaft, in sehr vielen Optionen zu denken und Zwischentöne zu erkennen. Speziell Deutschland ist aber ein Entweder-oder-Land. Klare Ansagen werden sehr geschätzt, Grautöne weniger. Dennoch: Nur wer offen und flexibel ist, wer mutig und neu denkt, wird unter diesen Umständen – wie sie die TUNA-Welt von heute kennzeichnen – bestehen. Radikale Zeiten erfordern eine radikale Führung!
In stabilen Zeiten, in denen keine „kritische“ Weichenstellung erforderlich ist, brauchen Unternehmen eigentlich keine Führung. Erst wenn sie nicht mehr „auf Autopilot“ laufen und die gewohnten Handlungsmuster durchbrochen werden müssen, braucht es den Einzelnen – die Managerin, den CEO, der bereit ist, unter unklaren Vorzeichen und ohne belastbare Erfahrungswerte mutig Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen und auch deren Konsequenzen zu akzeptieren.
In den vergangenen Jahren, betont Reinhard K. Sprenger, war eine konsequente oder gar „radikale“ (das heißt auch: an der Wurzel anpackende) Führung in den wenigsten Fällen wirklich notwendig. Dies führte unter anderem zu einer gewissen Aversion gegenüber Hierarchien, „Purpose“ allein sollte für die nötigen Entscheidungen sorgen!
Eine Folge dessen ist, dass viel zu viele Unternehmen heute allzu agile, allzu auf Konsens bedachte und daher entscheidungsschwache Manager haben. In Zeiten steten Wachstums mochte das funktionieren. In Krisenzeiten jedoch können allzu langes Abwägen und die Unfähigkeit, bei Bedarf auch mal „einsame“ Entscheidungen zu treffen, das Unternehmen teuer zu stehen kommen.
Wie Führung mittel- und langfristig aussehen wird, ist derzeit schwer zu prognostizieren. Dennoch wagt Sprenger die folgenden, teils provokanten Thesen:
// Das einzig legitime Ziel von Führung ist die Selbstführung. Führung funktioniert nur, wenn sie andere Menschen und Organisationen dazu ermutigt, sich selbst zu führen.
// Die meisten Manager sind Selbstoptimierer. Fremdoptimierer zu sein, ist für sie eine sehr seltsame Vorstellung. Und sie erkennen nicht, dass die pure Anwesenheit der Führungskraft häufig schon ausreicht, um Menschen ihre Selbstverantwortung zu entziehen.
// Viele Strukturen in Unternehmen fordern eine Infantilisierung geradezu heraus. Diese Strukturen müssen neu gedacht werden.
Radikale Führung ist heute nicht gleichbedeutend mit der Rückkehr des „Great Man“ an der Spitze. Das oberste Ziel von Managerinnen und Managern muss sein, dass ihre Mitarbeiter nicht allein ihnen vertrauen, sondern vor allem sich selbst. Ziel muss es sein, das Team so zu „designen“, dass es durch die komplementären Starken seiner Mitglieder und ausreichend Selbstvertrauen möglichst gar keine Führung benötigt. Sprich: Die entscheidungsstarke Führungskraft will auch andere in die Lage versetzen, Entscheidungen zu treffen, denn wer in tumultartigen Zeiten wie diesen immer erst einmal die Hierarchie hoch und wieder runter klettern muss, bis eine Entscheidung gefällt wird, ist zu langsam. Sprengers klare Botschaft:
„Wir brauchen keine raumfüllenden Führungskräfte. Sondern raumöffnende.“
Und: Führungskräfte sollten dafür sorgen, dass ihre Organisationen von außen nach innen denken. Nur dann bleiben sie erfolgreich. Wofür ist der Kunde bereit zu bezahlen – und mit welchen Kernstärken können wir ihm einen besonderen Mehrwert liefern? Was könnten die Menschen übermorgen brauchen? Dazu müssen viele Dinge „von außen gedacht“ in Frage gestellt werden, die „innen“ bisher sehr erfolgreich waren. Und man muss im Ernstfall kurzfristig schmerzhafte Veränderungen auf sich nehmen, um größere Schmerzen am Ende zu vermeiden. Nur leider befassen sich (zu) viele Unternehmen in erster Linie mit einer innen definierten Wirklichkeit. Je intensiver sie proklamieren, dass sie die Kundenbedürfnisse sehr ernst nehmen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kunde davon wenig spürt.
Führung und Führungskräfte standen in den vergangenen Jahren massiv auf dem Prüfstand. Manchem erschienen sie bereits als Phänomene überkommener Zeiten. Doch die vergangenen zwei Jahre haben uns wieder deutlich vor Augen geführt, dass es letztlich dann doch immer die eine Person braucht, die schnell, klar und mutig entscheidet.
Weitere starke Thesen und Argumente zu den Themen Führung und Konfliktmanagement finden Sie in einem exklusiven Interview mit Dr. Reinhard K. Sprenger: