Oder: Was ein Hubschrauber mit Populismus zu tun hat
Die Komplexität unserer Welt und die Herausforderungen bei der Lösung komplexer Probleme sind Themen, die Prof. Dr. Dr. Dietrich Dörner in seinem Klassiker „Die Logik des Misslingens: Strategisches Denken in komplexen Situationen“ eingehend behandelt. Dörner, ein führender Psychologe und im 20. Jahrhundert einer der Pioniere auf diesem Gebiet, entwickelte computergestützte Mikrowelten, um Entscheidungsprozesse in komplexen Umgebungen zu simulieren und die „operative Intelligenz“ von Menschen bei der Bewältigung solcher Aufgaben zu untersuchen.
Ein besonders interessanter Aspekt seiner Arbeit betrifft den Aktionismus im Sinne des Guten und den Fokus auf kurzfristige Wirkungen. Dörner hielt vor Jahren in einem Interview fest:
„Das Gutmenschentum brachte dann einen Aktionismus hervor, der direkt in die Katastrophe führte. Der entscheidende Fehler war, dass Fern- und Nebenwirkungen der Entscheidungen nicht berücksichtigt wurden. Die Teilnehmer hatten nur die unmittelbare Wirkung im Blick.“
In unserem SMP LeaderTalk #5 „Die Logik des Misslingens oder warum wir Ereignisse immer in ihrem Zusammenhang sehen sollten“ diskutierten Professor Dörner und ich die Themen Selbstüberschätzung und die Vereinfachung der komplexen Welt. Populisten und Ideologen aller politischen Richtungen nutzen häufig die Taktik, für hochkomplexe Problemevermeintlich einfache Lösungen in Aussicht zu stellen, um Menschen für sich zu gewinnen.
Der klinische Psychologe Jordan Peterson aus Kanada, einer der einflussreichsten Intellektuellen unserer Zeit, bietet mit seiner Unterscheidung zwischen einem Denken in „High Resolution“ und einem in „Low Resolution“ wertvolle Einblicke in die Gefahren simplifizierenden Denkens und die Notwendigkeit, die Realität nuanciert zu betrachten.
High-Resolution-Denken zeichnet sich durch Detailgenauigkeit, Komplexitätsbewusstsein und Kontextsensitivität aus. Es berücksichtigt eine Vielzahl von Variablen und deren Wechselwirkungen, um sich ein möglichst vollständiges Bild der Realität zu machen. Diese Denkweise erfordert Ambiguitätstoleranz und die Fähigkeit, verschiedene, teils widersprüchliche Perspektiven zu integrieren. Kognitionswissenschaftler wie der 2002 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Daniel Kahneman haben gezeigt, dass dieses „langsame Denken“ zwar anspruchsvoll ist, aber zu fundierteren Urteilen und effektiveren Problemlösungen führt.
Low-Resolution-Denken hingegen neigt dazu, Probleme zu vereinfachen in grobe, oft binäre Schemata zu kategorisieren. Diese kognitive Verkürzung kann in bestimmten Situationen sinnvoll sein, etwa wenn es darum geht, Gefahren schnell zu erkennen. In komplexen Entscheidungssituationen führt sie jedoch häufig zu verzerrten oder unvollständigen Wahrnehmungen.
Peterson veranschaulicht dies mit einem treffenden Vergleich:
„Es ist wie eine Kinderzeichnung eines Hubschraubers. Ein paar Striche in Form eines X, ein Kreis, ein Strich und ein weiterer Kreis, und man kann erkennen, was es ist. Wenn man jedoch möchte, dass es fliegt, muss man jedes Teil unendlich viel tiefer untersuchen, um ein wirkliches Verständnis dafür zu bekommen, was tatsächlich nötig ist, damit es fliegt.“
Die Attraktivität des Low-Resolution-Denkens liegt in seiner Einfachheit und der scheinbaren Klarheit, die es bietet. Besonders in Zeiten von Unsicherheit und rapiden Veränderungen kann diese Denkweise verlockend sein. Sozialpsychologen wie Arie Kruglanski, Professor an der University of Maryland, haben dieses Phänomen als „need for closure“ beschrieben, als Bedürfnis nach Gewissheiten, nach schnellen Ergebnissen und auch nach klaren Antworten – das in Krisensituationen zunimmt und die Anfälligkeit für vereinfachende Ideologien erhöht.
Ideologien und Populismus sind prägnante Beispiele für die Manifestation des Low-Resolution-Denkens im gesellschaftlichen und politischen Kontext.
Beide Phänomene neigen dazu, komplexe Realitäten auf eingängige Narrative zu reduzieren und emotionale Resonanz über sachliche Differenzierung zu stellen.
Ein wesentliches Problem dabei ist der Confirmation Bias, der zu selektiver Wahrnehmung führt. Ideologien fungieren hier als kognitive Filter, die primär jene Informationen durchlassen, die das bereits bestehende eigene Weltbild bestätigen. Widersprüchliche Daten werden ignoriert oder umgedeutet.
Die Geschichte des Kommunismus bietet ein anschauliches Beispiel für die Gefahren ideologischen Denkens. Die kommunistische Ideologie versprach eine klassenlose Gesellschaft und die Abschaffung der Ausbeutung. In der Praxis jedoch führte ihre Umsetzung in vielen Ländern zu totalitären Regimen, Menschenrechtsverletzungen und wirtschaftlichem Niedergang.
Ein aktuelles Beispiel für ideologische Verhärtung zeigt sich in der Klimadebatte: Hier stehen sich oft Lager gegenüber, die entweder jeglichen menschlichen Einfluss auf den Klimawandel leugnen oder apokalyptische Szenarien zeichnen. Beide Extreme vernachlässigen die wissenschaftliche Komplexität und behindern pragmatische Lösungsansätze.
Auch der Populismus bedient sich der Low-Resolution-Denke. Der niederländische Politikwissenschaftler und Populismus-Experte Cas Mudde spricht von einer „dünnen Ideologie“, die sich mit anderen Ideologien verbinden kann. Populisten arbeiten mit starken Vereinfachungen, indem sie komplexe sozioökonomische Probleme auf singuläre Ursachen zurückführen oder Sündenböcke identifizieren.
Die Grenzen des Low-Resolution-Denkens werden in einer Welt globaler und komplexer Interdependenzen deutlich, die eher multilaterale statt isolationistischer Ansätze erfordern.
Der permanente wissenschaftliche Fortschritt verlangt geistige Flexibilität statt starrer Glaubenssätze.
Systemisches Denken anstelle von Schuldzuweisungen ermöglicht es, Lösungen zu finden, die von nachhaltiger Wirkung sind.
In unserer Zeit geht es darum, Ambiguität auszuhalten, verschiedene Perspektiven zu integrieren und evidenzbasierte, adaptive Strategien zu entwickeln. High-Resolution-Denken ist eine Frage der geistigen Haltung: Es bedeutet, die Welt in ihrer Vielfalt wahrzunehmen, Widersprüche auszuhalten und gemeinsam nach tragfähigen Lösungen zu suchen.
Wie Adam Grant, Professor für Psychologie an der Wharton School in den USA und Autor des Bestsellers „Think again“, zu Recht betont, sollten wir die Haltung von Wissenschaftlern einnehmen, die ständig bemüht sind, bestehende Theorien zu testen und zu verbessern. Dieser Prozess erfordert die Bereitschaft, neue Daten zu berücksichtigen und bestehende Annahmen in Frage zu stellen.
Die Herausforderung dabei besteht darin, diese anspruchsvolle Denkweise so zu vermitteln und zu leben, dass sie nicht als Bürde, sondern als Bereicherung erfahren wird. Nur wenn es gelingt, die Eleganz und Schönheit des differenzierten Denkens erlebbar zu machen, kann es zum Leitbild einer aufgeklärten Gesellschaft werden.
Abschließend sei an Dörners Beobachtung aus seinen Simulationen erinnert, der zufolge „schlechte“ Versuchspersonen es bei der Formulierung von Hypothesen beließen, ohne diese weiter zu überprüfen. Für sie waren Hypothese und Realität eins. Dörner schrieb dazu:
„Diese Versuchspersonen produzierten also statt Hypothesen ‚Wahrheiten‘.“
Diese Aussage unterstreicht einmal mehr die Bedeutung eines offenen, hinterfragenden Geistes in einer komplexen Welt.