Oder: Warum unsere Muskulatur mehr als „nur“ ein Bewegungsapparat ist
Dass Bewegung und Muskelanstrengung die Ausschüttung von Glückshormonen wie Endorphinen fördern, bis hin zum Runner's High, ist seit langem bekannt. Völlig neu war für mich im Gespräch mit Professor Ingo Froböse (siehe den Podcast „Über Muskelschwund, das Orchester des Körpers und Sportmythen“), dass unsere Muskulatur ein endokrines Organ ist und Botenstoffe ausschütten kann, die für unsere körperliche und psychische Gesundheit von großer Bedeutung sind. Er hat dies sehr eindrucksvoll in seinem Buch „Muskeln. Die Gesundmacher“ beschrieben (siehe meinen Buchtipp), das auch die Grundlage für diesen Beitrag bildet.
Um es mit meinen Worten zu sagen: Froböse betont, dass wir eine eigene Apotheke in unseren Körper eingebaut bekommen haben, die auf Knopfdruck Heilmittel gegen zahlreiche Krankheiten produziert – von Diabetes über Krebs bis hin zu neurodegenerativen Erkrankungen. Klingt wie Science-Fiction? Weit gefehlt! Wir alle besitzen diese Wunder-Apotheke, dank unserer Muskulatur.
Die „Pillen“ dieser Apotheke, das sind die sogenannten Myokine. Ihre Entdeckung revolutioniert unser Verständnis davon, wie Bewegung und Sport unseren Körper beeinflussen. Sie erklärt, warum regelmäßige körperliche Aktivität so vielfältige positive Effekte hat – von der Stärkung des Immunsystems über die Regulierung des Stoffwechsels bis hin zum Schutz vor chronischen Erkrankungen.
Es war die dänische Forscherin und Professorin Bente Klarlund Pedersen, die 2007 erstmals diese faszinierenden Botenstoffe beschrieb (zusammen mit mehreren Kollegen) und ihnen ihren Namen gab. Seitdem hat sich ein völlig neues Forschungsfeld entwickelt. Wissenschaftler auf der ganzen Welt untersuchen heute die Wirkungen der verschiedenen Myokine und ihr therapeutisches Potenzial. Dabei zeigt sich immer deutlicher: Bewegung ist Medizin – und zwar eine äußerst vielseitige und nebenwirkungsarme.
Doch wie genau funktionieren diese körpereigenen Heilstoffe? Welche Myokine gibt es und was bewirken sie im Einzelnen? Und was bedeuten diese Erkenntnisse für unseren Alltag und die Prävention von Krankheiten?
Wissenschaftler gehen davon aus, dass es insgesamt etwa 3000 verschiedene Myokine gibt. Bislang sind davon indes nur rund 600 bekannt, und auch deren genauen Funktionen sind noch längst nicht vollständig erforscht.
Einige dieser Botenstoffe wurden in den letzten Jahren besonders intensiv untersucht. Zu den wichtigsten zählen:
Interleukin-6 (IL-6): Dies ist ein wahres Multitalent unter den Myokinen. Es spielt eine zentrale Rolle bei der Regulierung von Entzündungsprozessen, beeinflusst den Stoffwechsel und zeigt sogar krebshemmende Wirkungen.
Interleukin-15 (IL-15): Es fördert den Muskelaufbau und unterstützt das Immunsystem. Zudem hilft es bei der Fettverbrennung und der Knochenstärkung.
Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF): Dieses Myokin ist wichtig für die Gehirngesundheit, es fördert die Bildung neuer Nervenzellen und verbessert Lernfähigkeit und Gedächtnis.
Irisin: Hierbei handelt es sich um einen vielversprechenden Kandidaten im Kampf gegen Übergewicht. Es kann weißes Fettgewebe in braunes, stoffwechselaktives Fett umwandeln.
Myonectin: Dieses Myokin reguliert den Fettstoffwechsel und schützt das Herz bei akuten Durchblutungsstörungen.
Zusammen mit vielen weiteren Myokinen bilden sie ein komplexes Netzwerk von Botenstoffen, die bei körperlicher Aktivität freigesetzt werden und im gesamten Organismus ihre Wirkung entfalten. Sie kommunizieren mit verschiedenen Organen wie Leber, Fettgewebe, Gehirn sowie mit den Knochen und lösen überall dort verschiedenste positive Veränderungen aus.
Die gesundheitsfördernden Wirkungen sind beeindruckend. Sie reichen von der Stärkung des Immunsystems über die Regulierung des Stoffwechsels bis hin zum Schutz vor chronischen Erkrankungen. Einige der wichtigsten Effekte von Myokinen im Überblick:
Entzündungsschutz: Viele Myokine, allen voran IL-6, wirken stark entzündungshemmend. Das ist besonders wichtig, da chronische Entzündungen an der Entstehung vieler Zivilisationskrankheiten beteiligt sind.
Stoffwechselregulation: Myokine wie Irisin und Myonectin beeinflussen den Fett- und Zuckerstoffwechsel positiv. Sie verbessern die Sensitivität für Insulin und können so helfen, Diabetes vorzubeugen.
Krebsschutz: Einige Myokine, unter ihnen IL-6, IL-15 und BDNF, zeigen direkte krebshemmende Wirkungen. Sie können das Wachstum von Tumorzellen einhegen und deren Absterben fördern.
Neuroprotektion: BDNF und andere Myokine schützen und fördern die Gesundheit unseres Gehirns. Sie unterstützen die Bildung neuer Nervenzellen und können uns so möglicherweise vor neurodegenerativen Erkrankungen bewahren.
Knochengesundheit: Myokine wie IL-15 und Irisin fördern den Knochenaufbau und können helfen, Osteoporose vorzubeugen.
Herzschutz: Myonectin beispielsweise kann die Schäden bei einem akuten Herzinfarkt begrenzen.
Schon diese kleine Übersicht macht deutlich, warum regelmäßige Bewegung so wichtig für unsere Gesundheit ist.
Myokine vermitteln die positiven Effekte von Sport und körperlicher Aktivität gewissermaßen auf molekularer Ebene.
Schauen wir uns ein paar von ihnen einmal etwas genauer an.
Interleukin-6: Seine Geschichte ist besonders faszinierend. Lange Zeit galt es als reiner Entzündungsförderer. Der Grund: Bei vielen chronischen Erkrankungen wie Diabetes Typ 2 oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen finden sich erhöhte IL-6-Werte im Blut. Doch dann machten Forscher eine überraschende Entdeckung: Bei körperlicher Aktivität steigt die Konzentration von IL-6 im Blut innerhalb kürzester Zeit um das Hundertfache an – ohne dass dadurch Entzündungen gefördert werden.
Im Gegenteil: Das von den Muskeln produzierte IL-6 wirkt stark entzündungshemmend und hat zahlreiche andere positive Effekte. Es verbessert den Zuckerstoffwechsel, fördert die Fettverbrennung und zeigt sogar direkte Anti-Tumor-Wirkungen. Studien haben gezeigt, dass regelmäßige körperliche Aktivität das Risiko für bestimmte Krebsarten wie Brust- oder Darmkrebs um bis zu 30 Prozent senken kann. IL-6 spielt dabei eine Schlüsselrolle.
Wie kann ein und dasselbe Molekül so gegensätzliche Wirkungen haben? Die Antwort liefert (wie so häufig) der Kontext: Chronisch erhöhte IL-6-Werte in einem Körperzustand der Ruhe sind problematisch. Der kurzzeitige, starke Anstieg bei Bewegung hingegen löst eine Kaskade positiver Effekte aus. IL-6 wirkt dabei mit anderen Botenstoffen wie Adrenalin zusammen und aktiviert spezielle Immunzellen, die Krebszellen angreifen können.
Dieses Beispiel verdeutlicht, wie komplex die Wirkungen der Myokine sind und wie wichtig regelmäßige Bewegung für unsere Gesundheit ist. Es zeigt auch, dass wir vorsichtig sein müssen mit vereinfachenden Aussagen über „gute“ oder „schlechte“ Botenstoffe. Der Kontext macht den Unterschied.
Irisin ist ein weiteres faszinierendes Myokin. Seine Entdeckung im Jahr 2012 sorgte für Aufregung in der Forschungswelt und in den Medien. Der Grund: Irisin kann weißes Fettgewebe – unser Speicherfett – in braunes, stoffwechselaktives Fett umwandeln.
Braunes Fettgewebe verbrennt Kalorien, um Wärme zu erzeugen. Es ist bei Säuglingen weit verbreitet, aber auch Erwachsene haben noch kleine Mengen davon (wer mehr darüber erfahren will, dem empfehle ich meinen Beitrag #31 „Kälte als Lebensbooster“). Die Idee, weißes Fett in braunes umzuwandeln, ist daher ein vielversprechender Ansatz im Kampf gegen Übergewicht.
Irisin wird vor allem bei Ausdauertraining ausgeschüttet. Es verbessert nicht nur die Fettverbrennung, sondern hat auch positive Effekte auf den Zuckerstoffwechsel. Das macht es interessant für die Prävention und Behandlung von Diabetes Typ 2. Darüber hinaus fördert Irisin die Knochengesundheit und zeigt sogar krebshemmende Wirkungen, zumindest bei bestimmten Tumorarten.
Die Entdeckung von Irisin weckte große Hoffnungen in der Pharmaindustrie. Man träumte von einer „Bewegungspille“, die die positiven Effekte von Sport nachahmen könnte. Doch die Realität erwies sich – wie so häufig in der Wissenschaft – als komplexer. Die genauen Wirkmechanismen von Irisin sind noch nicht vollständig erforscht, und auch seine vielfältigen Effekte machen die Entwicklung eines vergleichbar wirkenden Medikaments schwierig.
Brain-Derived Neurotrophic Factor (BDNF) ist ein Myokin mit bemerkenswerten Wirkungen. Ursprünglich im Gehirn entdeckt, weiß man heute, dass BDNF auch von den Muskeln produziert und bei körperlicher Aktivität vermehrt ausgeschüttet wird.
BDNF spielt eine zentrale Rolle für die Gesundheit unseres Nervensystems. Es fördert das Wachstum und die Vernetzung von Nervenzellen, verbessert die Plastizität des Gehirns und unterstützt Lernprozesse sowie Gedächtnisleistungen. Forscher sehen in BDNF einen vielversprechenden Ansatzpunkt für die Prävention und Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer.
„Clinical evidence indicates that humans affected by sarcopenia, a condition of muscle atrophy, present neuroanatomical abnormalities consistent with neurodegeneration”
heißt es in einem Papier des Instituts für medizinische Biochemie der Federal University Rio de Janeiro aus dem Jahr 2021.
Interessanterweise hat BDNF auch direkte Wirkungen auf die Muskulatur. Es fördert das Wachstum der schnellen, kräftigen Muskelfasern (Typ II) und verbessert die Verbindungen zwischen Nerven und Muskeln.
Das erklärt, warum Krafttraining so wichtig ist, um im Alter Muskelabbau und Sturzgefahr vorzubeugen.
Darüber hinaus könnten Myokine bei depressiven Erkrankungen hilfreich sein. Dies hat ihnen sogar die Bezeichnung „Moleküle der Hoffnung“ eingebracht.
So haben die Forscher Cristy Phillips (von der Arkansas State University) und Ahmad Salehi (von der Stanford University) im Jahr 2016 in der Zeitschrift „Physical Therapy“ einen Beitrag über den Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Depressionen veröffentlicht. Sie bezogen sich dabei auf eine kurz zuvor veröffentlichte Studie, bei der Mäuse mit einem niedrigeren Spiegel eines für Myokine wichtigen Aktivators eine geringere Stressresistenz aufwiesen als Mäuse mit einem höheren Spiegel.
„Nach einer erheblichen Stressbelastung schienen die Mäuse die Hoffnung zu verlieren, was sich in ihren reduzierten Überlebensbemühungen während des erzwungenen Schwimmens zeigte (ein Indikator für Depression)“, schreiben die beiden Forscher. „Insgesamt deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass die Freisetzung von ‚Hoffnungsmolekülen‘ in der Skelettmuskulatur von Nagetieren die Symptome von Stimmungsschwankungen beeinflusst.“
Zusammenfassend lässt sich schon jetzt mit großer Gewissheit sagen: Eine ausgewogene Mischung aus Ausdauer- und Krafttraining bringt den größten gesundheitlichen Nutzen für Körper und Psyche. Experten empfehlen pro Woche mindestens 150 Minuten moderates oder 75 Minuten intensives Ausdauertraining, ergänzt durch mindestens zwei Krafttrainingseinheiten. Dabei ist es wichtig, die Intensität langsam zu steigern, um den Körper immer wieder dazu anzuregen, sich anzupassen und weiterzuentwickeln.